Das Wichtigste in Kürze
- Immer wieder wird der Tod des gedruckten Buches beschworen. Auch vor zehn Jahren, als das E-Book den Massenmarkt erreichte.
- 2007, mit Amazons Kindle, fanden E-Books ein breites Publikum. Der Hype war gross.
- Nach einer ersten Euphorie stagnieren heute die E-Book-Absätze – oder sind sogar rückläufig: Gerade in Europa findet das gedruckte Buch nach wie vor hohen Zuspruch.
- Die Geschichte zeigt: Das Buch und insbesondere der Buchmarkt sind ständigem Wandel unterworfen.
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Die Älteren unter uns werden sich vielleicht erinnern: Es gab eine Zeit, da hatten wir kein Internet und keine Smartphones. Das ist noch kein Vierteljahrhundert her. Säbelzahntiger liefen damals also nicht mehr herum, und auch die Dinsoaurier hatten sich längst verabschiedet. Und dennoch: Aus heutiger Sicht wirkt die Zeit vor 1993 unglaublich weit entfernt.
Die Frage ist also berechtigt, wie wir seinerzeit gearbeitet, studiert und kommuniziert haben. Wie war es, als wir noch nicht ständig erreichbar waren? Noch nicht meinten, auf jede Anfrage innerhalb weniger Minuten antworten zu müssen – von Social-Media-Aktivitäten ganz zu schweigen?
Wie ein blutiger Militärputsch
Dass sich unsere Lebensumstände durch das Internet massiv verändert haben, ist evident. Die Verfügbarkeit dieses Instruments kommt einer Revolution gleich.
Das spürte auch die Frankfurter Buchmesse, als sie ab 1993 «Neue Medien» zuliess. Die Reaktionen waren so, als habe jemand einen blutigen Militärputsch durchgezogen: «Verräter am Buch» war noch eine der milderen Beschimpfungen, die die Messemacher seinerzeit hören mussten.
Gleichzeitig schossen die Spekulationen ins Kraut, dass dieser Schritt unweigerlich das Ende des gedruckten Buchs eingeläutet habe.
Falsche Prognosen
Hätte das gedruckte Buch eine Stimme, würde es heute wohl mit fröhlichem Kichern Mark Twain zitieren. Falschmeldungen über sein Ableben quittierte dieser mit einem lakonischen Kommentar: «Der Bericht über meinen Tod wurde stark übertrieben.»
Die Prognosen, dass wir alle nur noch elektronische Bücher lesen würden, haben sich samt und sonders als Unsinn erwiesen. In grossen Buchmärkten wie Deutschland, Frankreich, Japan oder China haben E-Books laut dem «Global eBook Report 2017» wenig mehr als fünf bis acht Prozent Marktanteil.
Selbst in den USA und Grossbritannien, wo zwischenzeitlich fast ein Drittel aller Buchverkäufe auf E-Books entfielen, sind diese Verkäufe in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Gleichzeitig konnten gedruckte Bücher im Hardcover kräftig zulegen.
Keine voreiligen Schlüsse
Einigen Auguren gibt dies bereits Anlass, das E-Book als Rohrkrepierer zu bezeichnen. Auch das ist Unsinn, der sich – so wie die Prognosen über das Ende des gedruckten Buchs – zumeist aus profunder Unkenntnis der Mechanismen des Buchmarkts speist.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den technischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Implikationen der Digitalisierung von Büchern findet nur selten statt.
Das E-Book hat neue Strukturen geschaffen
Wenn über die Bedeutung des E-Books für die Buchbranche gesprochen wird, fällt oft der Begriff «Disruption»: Ein Produkt wird auf den Markt gebracht, das die bestehenden Strukturen ausser Kraft setzt – und gleichzeitig selbst völlig neue Strukturen schafft.
Es stimmt: Das E-Book hat neue Strukturen geschaffen. Allerdings ist es weniger das Produkt, das hier disruptiv wirkt, sondern sein Vertrieb.
Das Buch – eine Ware
Womit wir bei dem Thema wären, das in der Debatte um E-Books häufig übersehen wird: Das Buch ist natürlich Träger von Kultur und Information, aber seit seiner Entstehung ist es ein kommerzielles Gut.
Anders gesagt: Der Inhalt des Buches mag das «Wahre, Schöne, Gute» ausdrücken. Das Buch selbst ist aber vor allem eine gute, schöne Ware, für das gilt: «Disruption» gab es schon immer.
In den Zeiten von Gutenberg
Schon die ersten in der Mainzer Werkstatt von Johannes Gutenberg produzierten Bücher wurden bei der Frankfurter Büchermesse gehandelt, die seit dem Mittelalter existiert. Ob es seinerzeit Stimmen gegeben hat, die diese neue Darreichungsform von Texten als Totengräber der Kultur bezeichneten, wissen wir allerdings nicht.
Die damaligen Handelsstrukturen sorgten dafür, dass im frühneuzeitlichen Europa zunächst Manuskripte und später gedruckte Texte zwischen Süden, Norden, Osten und Westen ausgetauscht werden konnten. Diese Handelsstrukturen waren wesentlich verantwortlich für die Verbreitung des Gedankenguts der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung und damit für das Entstehen der geistigen Strukturen des modernen Europas.
Sie sorgten auch dafür, dass der europäischen Erfindung des Letterndrucks ein anderes Schicksal beschieden war als der Letterndruck-Technik Koreas (Jigji). Diese entstand früher, konnte aber keine kommerzielle Bedeutung erlangen.
Die Vorläufer des E-Books im 19. Jahrhundert
Die technische Bearbeitung von Büchern, um sie abseits der traditionellen gedruckten Ausgaben zu verbreiten, ist zudem kein neues Phänomen: Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nutzen vor allem Bibliotheken die Technik des Fotografierens, um aus ihren Büchern Mikroformen (Mikrofilm, Mikrofiches) herzustellen.
Sie machten damit gute Erfahrungen: Alte Buchbestände werden geschont, seltene Bücher finden Verbreitung – übrigens werden noch heute digital entstandene Inhalte auf Mikrofilm gespeichert, weil dieser eine wesentlich längere Haltbarkeit bietet als jeder digitale Datenträger.
Vor allem die wissenschaftlichen Verlage entwickelten daraus sehr gut funktionierende Geschäftsmodelle: Über Jahrzehnte hat dies allen Beteiligten eine zufriedenstellende Kooperation ermöglicht.
Geburtsstunde des ersten E-Books
Bereits 1949 patentierte Ángela Ruiz Robles ihre «Enciclopedia Mecánica» in Spanien. Am 4. Juli 1971 stellte Michael Stern Hart die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung in das interne Netzwerk der Universität Illinois – das wird als die Geburtsstunde des E-Books angesehen. Seither treibt das von ihm angeregte «Project Gutenberg» die Digitalisierung von alten Buchbeständen voran.
Erst die Technik machte es möglich
Zwei wesentliche technische Entwicklungen stehen am Beginn der Debatte um die Digitalisierung von Büchern: Zum ersten die Entwicklung leistungsfähiger Speichermedien und Software, die eine kostengünstige Bearbeitung ermöglichten. Zum zweiten die Verfügbarkeit des Internets.
Erst in den 1990er-Jahren wurden quantitativ ausreichende Speichermedien wie die CD-ROM allgemein verfügbar. Speichermedien, mit denen sich Texte und Bilder im nötigen Umfang und angemessener Qualität zu vertretbaren Preisen in elektronische Bücher umsetzen liessen.
Anfängliche E-Flops
In den 1990er-Jahre erblickte ein digitales Lexikon aus dem Bertelsmann-Verlag als erstes wirklich kommerzielles Projekt das Licht: Ein Hybrid-Produkt mit gekürzter Druckfassung. Es wurde zwar viel beachtet, aber wenig gekauft.
Nicht viel besser war es vorher William Gibson mit seinem Roman «Mona Lisa Overdrive» ergangen. Es kam 1988 als erstes E-Book in den Handel, das sich vollständig am Computerbildschirm lesen liess.
Was fehlt? Populäre Inhalte!
1991 stellte Sony mit dem Data Discman das erste echte E-Book-Lesegerät vor. Dieses musste man mit CD-ROMs füttern. Es fand vor allem bei professionellen Nutzern aus Wirtschaft und Wissenschaft durchaus Anklang.
Für den Durchbruch im Publikumsmarkt fehlte es aber am wichtigsten Lockmittel: interessante, populäre Inhalte. Zwar waren spätestens ab Mitte der 1990er-Jahre CD-ROMs als Beigabe zu Fachbüchern oder Ratgebern nichts Aussergewöhnliches mehr. Bis die Verleger von Belletristik, populären Sachbüchern oder Kinderbüchern ihre Inhalte routinemässig auch digital zur Verfügung stellten, sollte es aber noch mehr als ein Jahrzehnt dauern.
Der Durchbruch lässt auf sich warten
Wegen fehlender attraktiver Inhalte war auch dem ersten wirklich bedeutsamen Versuch, E-Book-Lesegeräte im Publikumsmarkt zu etablieren, ein baldiges Ende beschieden: 1998 kamen «Rocket E-Book» und «SoftBook» auf den Markt.
Beide warteten im Grunde schon mit den Dingen auf, die später den Kindle auszeichneten: eine ordentliche Speicherkapazität von bis zu 100‘000 Seiten, ein guter Bildschirm, ein erträgliches Gewicht. Das Publikum hielt sich trotzdem fern, denn es gab viel zu wenig Auswahl.
2003 kam das Aus für diese Generation von E-Book-Lesegeräten. Zu dieser Zeit tauchten mit EPUB und MobiPocket Software-Formate auf, mit denen die damals populären digitalen Assistenten wie zum Beispiel der «Palm» zu Lesegeräten umgestrickt werden konnten. Das funktionierte ordentlich, brachte aber ebenfalls noch keinen Durchbruch.
Auch Stephen King scheiterte
An Versuchen, die neue Art des Lesens zu nutzen, fehlte es allerdings nicht: Der US-amerikanische Bestseller-Autor Stephen King wagte es im Jahr 2000, seinen Roman «Riding the Bullet» ausschliesslich kapitelweise im Internet zu verkaufen.
Das liess sich zunächst gut an: Am ersten Tag des Projekts wurden rund 500‘000 Downloads verzeichnet. Als die folgenden Kapitel allerdings nur gegen Gebühr verfügbar gemacht wurden, brach die Nachfrage ein.
Sämtliche Bemühungen in dieser Richtung wurden eingestellt. Dies, obwohl sich transnationale Medienkonzerne wie Bertelsmann, Viacom und News Corporation engagiert hatten. Als gedrucktes Buch und Film wurde die Erzählung später ein grosser Erfolg.
Amazon schafft die Wende
Letztlich verdanken die E-Books ihren Start im Publikumsmarkt den beiden US-Riesen Amazon und Apple. Der Verkaufsstart von Amazons «Kindle» im November 2007 geriet zur Sensation: Nach fünfeinhalb Stunden waren die Geräte ausverkauft. Erst im März des Folgejahres konnte Amazon wieder liefern.
Apple kam 2010 mit seinem «iPad» auf den Markt. Dieses vereinte die technischen Möglichkeiten von Mobiltelefon, Lesegerät und Laptop. In der Zwischenzeit haben diese Tablet-Computer die einfachen Lesegeräte in den Schatten gestellt, gleichzeitig lesen immer mehr Menschen ihre E-Books heute auf Smartphones.
Gründe für den Kindle-Erfolg
In den Jahren nach der Kindle-Einführung explodierte der E-Book-Markt in den USA und Grossbritannien: Es gab jährliche Steigerungsraten von teils mehr als 100 Prozent. Dabei kamen zwei wesentliche Faktoren ins Spiel: Beide Länder kennen keine Preisbindung, wodurch sich Amazon mithilfe von massivem Preisdumping Marktanteile schlichtweg erkaufen konnte.
Zum anderen konnte Amazon mit seinem Kindle von Beginn an aus einem grossen Angebot schöpfen: Schon 2007 waren das gegen 100‘000 Titel – darunter fast alle Bücher, die auf der Bestsellerliste der New York Times vertreten waren. Heute kann Amazon mehrere Millionen Bücher liefern, in fast allen Sprachen der Welt.
Zudem nahm Amazon schon früh den wachsenden Markt der Selbstverleger in den Blick. Das Unternehmen bot ihnen effiziente und lukrative Möglichkeiten, ihre Bücher in elektronischer und gedruckter Form selbst zu vermarkten. Heute setzen Selbstverleger in den USA mehr um als die grossen fünf Publikumsverlage.
An Amazon führt kein Weg vorbei
Amazon und sein Kindle sind für die Verlage in aller Welt zu Fluch und Segen zugleich geworden. Segen, weil es das Unternehmen geschafft hat, neue Käufergruppen zu erschliessen und angestammte Käufergruppen bei der Stange zu halten. Fluch, weil eigentlich kein Verlag es sich leisten kann, seine Titel – ob gedruckt oder als E-Book – nicht über Amazon anzubieten.
Vor allem der Erfolg von Amazon im E-Book-Markt ist für die Konkurrenz ernüchternd: Heute kann das Unternehmen rund 80 Prozent der Verkäufe von englischsprachigen E-Books auf sich vereinen. In Deutschland, wo mit der Tolino-Allianz ein schlagkräftiger Konkurrent entstanden ist, hat Amazon einen Anteil von etwas mehr als 50 Prozent beim E-Book-Verkauf. Belastbare Zahlen für die Schweiz liegen nicht vor.
E-Book-«Krise» dank höherer Preise
Die grössten englischsprachigen Publikumsverlage – Random House, Penguin, Macmillan, HarperCollins, Hachette und Simon & Schuster – reagierten. Sie bemühten sich ab 2010, dem ungeheuren Preisdruck durch Amazon mithilfe von Preisabsprachen mit Apple zu entgehen: Die Verlage selbst setzten die Verkaufspreise fest, Apple bot nur geringe Rabatte an.
Wegen dieser Absprachen wurden alle Beteiligten wegen Kartellbildung angeklagt und mussten teils empfindliche Strafzahlungen leisten. Seit 2015 ist es den Verlagen allerdings gelungen, auch gegenüber Amazon ein Konditionensystem bei E-Books umzusetzen: Dies macht das E-Books nicht mehr wesentlich billiger als die Taschenbuchausgaben der entsprechenden Titel.
Rückgang der E-Books
Das System zeigte Wirkung. Diese neue Preispolitik schlägt sich seither in kontinuierlich sinkenden Absätzen von E-Books in den USA und Grossbritannien nieder: Einst wurden fast 35 Prozent aller Bücher im Bereich von Belletristik und Sachbuch als E-Books verkauft. Heute liegt dieser Anteil bei weniger als einem Viertel.
Das hört sich nach Krise an. Aber von Krise kann eigentlich keine Rede sein: Ja, die Zahl der abgesetzten Exemplare war deutlich höher. Aber die Umsätze mit E-Books in den USA und Grossbritannien machten in der Spitze nicht einmal 15 Prozent aus. Durch die deutlich gestiegenen Preise setzen die grossen Verlage heute zwar weniger Exemplare ab. Aber sie erzielen wenigstens die gleichen Umsätze wie noch vor drei Jahren.
Kulturelle Unterschiede
Diese Mechanismen erklären aber nicht, warum in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und auch in der Schweiz das E-Book bis heute nicht in die Nähe eines Marktanteils von 10 Prozent gelangt ist. Möglicherweise spielen kulturelle Unterschiede zur englischsprachigen Welt eine Rolle.
Bei sämtlichen Umfragen, in denen es um die bevorzugte Art des Lesens geht, schneidet das gedruckte Buch um Längen besser ab als die digitale Konkurrenz: Es geht den Lesern um Haptik, um das vertraute Umblättern von Seiten – letztlich um «creature comforts», die mit dem gedruckten Buch verbunden werden. Das E-Book wird allenfalls als praktischer Reisebegleiter geschätzt.
Revolution, welche Revolution?
Wobei wir uns an dieser Stelle an Karl Marx erinnern: Er bezeichnete die Revolutionen zwar als «Lokomotiven der Geschichte», soll aber auch geunkt haben: «Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloss nicht die Menschen.»
Ob Marx das tatsächlich gesagt hat, ist umstritten. Aber wenn es um die Vorhersagen über das Ableben des gedruckten Buchs und den unaufhaltsamen Siegeszug des E-Books geht, trifft dieser Satz ganz und gar zu.