Als sie die Anfrage erhielt, eine Kurzgeschichte zu einem Erzählband beizusteuern, ahnte Julia Schoch noch nicht, wie stark das ihr literarisches Schaffen beeinflussen würde.
Für die deutsche Schriftstellerin bot diese Anfrage eine willkommene Gelegenheit, etwas Neues auszuprobieren. Das Besondere daran: Alle Geschichten sollten in Einfacher Sprache verfasst und trotzdem von literarischem Tiefgang sein.
2020 erschien der Erzählband unter dem Titel «LiES». Das steht für «Literatur in Einfacher Sprache». Insgesamt 15 namhafte Autorinnen und Autoren steuerten Texte dazu bei.
Weil die Resonanz so gross war, ist kürzlich ein zweiter «LiES»-Band herausgekommen. Julia Schoch hat zu beiden Büchern je eine Geschichte beigetragen.
Weg mit dem Sprachballast
Unter «Einfacher Sprache» versteht man eine vereinfachte Form der deutschen Standardsprache. Im Vordergrund steht die Verständlichkeit. Auf komplizierte Satzstrukturen oder Fremdwörter wird verzichtet.
Auch Metaphern, Wortspiele oder Redewendungen gilt es zu vermeiden. Denn die Einfache Sprache richtet sich an Menschen, denen das Lesen schwerfällt.
Aber: Lässt sich mit einem derart reduzierten Sprachinstrumentarium Literatur erschaffen? Julia Schoch wollte es ausprobieren. «Ich hatte schon immer eine Neigung zu klaren Formulierungen», erklärt sie. «Aber dieses Experiment hat mich dazu gebracht, das Ganze noch radikaler anzugehen. Wenn man allen sprachlichen Ballast wegräumt, muss man die Dinge ganz direkt benennen. Man muss zum Kern stossen.» Das sei anspruchs-, aber auch reizvoll.
Zeitsprünge unerwünscht
Julia Schoch und die anderen am Erzählband Beteiligten einigten sich im Vorfeld auf zehn Regeln. Eine lautet: «Wir benutzen einfache Wörter.» Eine andere: «Wenn wir Sprachbilder verwenden, erläutern wir diese.»
Eine weitere Regel besagt, dass Zeitsprünge möglichst vermieden werden sollen, damit die Lesenden den Faden nicht verlieren. Diese Regel, so Schoch, sei ihr besonders schwergefallen. Schoch ist bekannt dafür, häufig mit Erinnerungen und Rückblenden zu arbeiten.
Durch die kurzen Sätze und häufigen Wortwiederholungen sei in ihren «einfachen» Kurzgeschichten ein ganz spezieller Rhythmus entstanden. «Fast wie eine Litanei», so Schoch, «und das hat sehr gut zum Inhalt gepasst – oder diesen sogar noch deutlicher hervortreten lassen». In ihren Geschichten geht es um ein Paar, das am Ende seiner Beziehung angekommen zu sein scheint.
Kein Randphänomen
Das Schreiben in Einfacher Sprache hat Julia Schoch nicht nur stilistisch, sondern auch menschlich sehr geprägt: Es hat ihr die Augen geöffnet, wie viele Menschen Mühe mit dem Lesen haben.
Zu Lesungen aus dem «LIES»-Erzählband seien ganz unterschiedliche Leute gekommen, so die Autorin: Menschen, die nicht gut Deutsch können. Menschen, die krank waren, die beispielsweise einen Schlaganfall hatten und sich nicht mehr lange konzentrieren können. Oder auch Menschen, die bisher Hemmungen hatten, sich an Literatur heranzuwagen.
«Wie gross und vor allem wie vielfältig die Gruppe von Menschen ist, die gerne Literatur lesen möchte, aber auf Einfache Sprache angewiesen ist – das ist mir erst durch die Veranstaltungen bewusst geworden», sagt Schoch.
Schwierigkeiten trotz Schulbildung
Auf den gesamten deutschsprachigen Raum hochgerechnet, geht man von etwa 20 Millionen Menschen aus, die nicht gut lesen können. Das entspricht ungefähr der Bevölkerungsgrösse Rumäniens.
In der Schweiz stellt etwa 16 Prozent der Bevölkerung bereits das Lesen eines sehr einfachen Texts vor unüberwindbare Verständnisprobleme. Das zeigte eine Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS), im Jahr 2003, die sogenannte ALL-Studie.
Diese rund 800'000 Menschen zwischen 16 und 65 Jahren sind vom sogenannten Illettrismus betroffen. Sie haben enorme Mühe mit dem Lesen und dem Schreiben – und das, obwohl die meisten von ihnen die Schule besucht haben.
Den Anschluss nicht verlieren
Aktuellere Zahlen zur Lesefähigkeit gibt es nicht. Eine neue Studie wird erst für Ende 2024 erwartet. Über die Entwicklung könne er deshalb «nur orakeln», sagt Christian Maag, Geschäftsführer des Schweizer Dachverbands Lesen und Schreiben. «Aber ich gehe davon aus, dass sich die Situation nicht wesentlich verbessert, wenn nicht sogar verschlechtert hat.»
Maag meint, dass die Ansprüche an Lese- und Schreibkompetenzen im Zuge der Digitalisierung immer weiter steigen: «Vieles lässt sich nur noch online erledigen. Man muss Webseiten bedienen und wesentliche Informationen filtern können. Das ist für Menschen mit Illettrismus ein Problem.» Die Gefahr, gesellschaftlich den Anschluss zu verlieren, sei gross.
Betroffenen empfiehlt er, sich Hilfe zu holen. Schweizweit gebe es ein grosses Kursangebot für Menschen mit Illettrismus. Maag begrüsst Literaturinitiativen wie die «LiES»-Erzählbände: «Alles, was zum Lesen animieren kann, ist gut und wichtig.»