Anita Rutschmann hat keine guten Erinnerungen an ihre Schulzeit. «Es war der Horror», sagt sie heute. Rutschmann gehört zu jenen rund 16 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die noch im Erwachsenenalter grosse Mühe mit Lesen und Schreiben haben. Das ist jede sechste Person oder zum Zeitpunkt einer Untersuchung im Jahr 2003 nahezu 800'000 Personen. Illettrismus nennt man dies, wenn die Lese- und Schreibfähigkeit nicht ausreicht, um Aufgaben des täglichen Lebens zu bewältigen.
Mühe in der Schule
In der Schweiz gibt es diverse Programme, die Menschen wie Anita Rutschmann helfen. Sie zum Beispiel besucht seit sechs Jahren den Kurs «Lesen & Schreiben» des Kantons Luzern. Der Gratis-Kurs habe ihr viel Selbstbewusstsein zurückgegeben, sagt die 32-jährige. «Niemand lacht, wenn ich drei Versuche brauche, um ein Wort zu lesen oder wenn ich «kommen» ohne «Doppel-M» schreibe. Seit dem ersten Tag fühle ich mich wohl in dieser Gruppe.»
Während ihrer obligatorischen Schulzeit habe sie andere Erfahrungen gemacht. Sie wurde für ihre Schwäche ausgelacht. Sogar eine Lehrerin habe sie vor der gesamten Klasse blossgestellt. Dies habe ihr die Lust am Lernen ausgetrieben. «Sobald ich Buchstaben sah, wollte ich davonrennen», erinnert sie sich. «Freiwillig las und schrieb ich gar nichts mehr.»
Lese-Kurse für Erwachsene
Für Leute, die grosse Mühe mit Lesen und Schreiben haben, ist der Alltag ein Spiessrutenlauf. Man droht an scheinbar simplen Dingen zu scheitern. Anita Rutschmann macht ein Beispiel – Zugfahren: «Ich hatte grosse Probleme. Etwa mit der Fahrplantafel, vor der ich sicher fünf Minuten stehen musste, um zu entziffern, zu welcher Zeit und auf welchem Gleis mein Zug losfuhr. Ich war mir sicher, dass mich die anderen doof anschauen. Und ab da ging nichts mehr.» Dank des Smartphones könne sie sich nun im Vorfeld schon informieren, das ginge besser.
Diese oder ähnliche Erfahrungen machen allein in Luzern rund 45'000 Leute. Ihnen zu helfen, sei schwierig, sagt Patricia Buser, die beim Kanton für die Weiterbildung zuständig ist und damit auch für die Lese- und Schreibkurse für Erwachsene. Die erste Herausforderung sei, die Betroffenen auf die Kurse aufmerksam zu machen. Wegen ihrer Schwäche erreiche man sie nicht über die herkömmlichen Kanäle wie Soziale Medien oder Prospekte.
Wichtige Voraussetzung für die Arbeitssuche
«Am besten funktioniert nach wie vor die Empfehlung von Mund-zu-Mund», sagt Buser. «Es braucht ein Netzwerk, das die Angebote bekannt macht und Betroffenen die Scham nimmt.» Im Kanton Luzern übernehmen diese Aufgabe verschiedene Beratungsstellen wie zum Beispiel die Sozialen Dienste. Das Angebot sei ein wichtiges, ist Buser überzeugt. Die Arbeitswelt sei auf Lesen und Schreiben ausgerichtet. «Es fängt bei der Bewerbung an, die heute ausschliesslich schriftlich akzeptiert wird. Per Handschlag werden keine Jobs mehr verteilt.»
Das zeigt sich auch in der Statistik. Laut dem Kanton sind über die Hälfte aller Menschen, die auf Illettrismus-Kurse angewiesen sind, arbeitslos. Anita Rutschmann gehört nicht dazu, sie betreut Leute in Altersheimen und Privatwohnungen, geht mit ihnen Spazieren oder begleitet sie zum Arzt. Der Lese- und Schreibkurs sei ihr dabei eine grosse Hilfe. Obwohl sie auch nach sechs Jahren noch darauf angewiesen sei, habe sie grosse Fortschritte gemacht. «Früher verzichtete ich aus Scham ganz aufs Schreiben. Heute bin ich mutiger und schreibe trotz möglicher Fehler. Wer es nicht versteht, muss halt fragen.»