«Völlig entnervt hat mein Vater – als Schulbibliothekar mit blutendem Herzen – auf dem Campingplatz in Schweden den aktuellen Harry-Potter-Band mit dem Cuttermesser am Buchrücken auseinandergeschnitten. Meine beiden Brüder – bis dahin eher lesefaul – stritten sich dauernd um das Buch. So konnten beide gleichzeitig weiterlesen.»
Solche Fan-Anekdoten sind keine Seltenheit, seit heute vor 25 Jahren der erste Band «Harry Potter und der Stein der Weisen» erschienen ist.
Was «Harry Potter» ausmacht
Damals entstand ein unvergleichlicher Hype um Harrys Geschichte. So stand etwa während zehn Jahren fast ununterbrochen ein «Harry-Potter»-Band auf der Bestellerliste der «New York Times».
Kein Wunder, sagt Petra Schrackmann, Bibliothekarin am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien Sikjm und Expertin für populäre Literaturen und Medien. Sie zählt fünf Faktoren auf, weshalb Harry Potter die Bücherwelt dermassen auf den Kopf stellte:
- Der Humor und die Details: «Harry Potter» ist eine gut erzählte, spannende Geschichte, gespickt mit viel britischem Humor. Autorin Joanne K. Rowling hat an jedes kleinste Detail gedacht und ein Universum erschaffen, in das man abtauchen kann. Es ist so reich bevölkert, dass jeder und jede seine oder ihre Lieblingsfigur finden kann.
- Cleveres Marketing: Der Potter-Hype wäre nicht denkbar ohne die durchdachte Marketing-Kampagne, in der Rowling von Anfang an eine wichtige Rolle spielt und auch als Figur der alleinerziehenden Mutter, die in bescheidenen Verhältnissen leben muss, inszeniert wird.
- Vier auf einen Streich: Harry Potter ist eine Kombination aus vielen verschieden Genres (Fantasy, Krimi, Märchen, Gruselgeschichte) und erzählt gleichzeitig aus dem Alltag von Teenagern, den die Leserinnen und Leser gut nachvollziehen können.
- Das Internet: Zur gleichen Zeit, als Harry Potter richtig abhebt, kommt das Internet auf. Plötzlich können sich Fans weltweit vernetzen und austauschen.
- Einer für alle: Die Geschichte spricht mehrere Generationen an. Mit Harry Potter beginnt das sogenannte «cross-over»: verschiedene Altersgruppen interessieren sich für eine Geschichte, die eigentlich für Kinder geschrieben ist.
Potter ist nicht zu toppen
Kaum ein Buch aus der Kinder- und Jugendliteratur konnte der «Harry-Potter»-Reihe bisher das Wasser reichen. Aber viele Autorinnen und Autoren haben versucht, an den Erfolg anzuknüpfen.
Ein prominentes Beispiel ist die fünfbändige Fantasy-Reihe «Percy Jackson» von Rick Riordan, deren erster Band im Jahr 2005 erschien. Sie basiert darauf, dass die Sagen der griechischen Mythologie real sind. Hauptprotagonist ist der 12-jährige Perseus «Percy» Jackson, ein griechischer Halbgott.
Auch die «Twilight Saga» von Stephenie Meyer löste kurzweilig einen Hype aus – als Buch und Film. Aber der Hype kam nie an den Potter’schen heran.
Fans lesen ihren Kindern vor
Buchhändler und Bibliothekarinnen bestätigen, was man vermutet: «Harry Potter» hat die Leseszene verändert und aus Lesemuffeln Bücherwürmer gemacht.
Obwohl die Nachfrage nachgelassen hat, ist sie immer noch da. «Wurden zu Spitzenzeiten täglich 1000 Exemplare verkauft, sind es heute noch zwei bis drei. Wenn nicht täglich, dann sicher wöchentlich», sagt Sabine Haarmann, Filialleiterin von Orell Füssli im Kramhof Zürich.
Viele Fans, die die «Harry-Potter»-Geschichten als Kind gelesen haben, lesen sie nun ihren eigenen Kindern vor oder empfehlen sie ihnen zur Lektüre.
Rassismus und rückständige Rollenbilder
Für viele Fans bedeutet «Harry Potter» Nostalgie. Trotzdem stellt sich die Frage, wie zeitgemäss die Geschichten heute noch sind. Vor allem in Bezug auf gesellschaftsrelevante Themen wie Rassismus oder Sexismus.
Rassismus, sagt Expertin Petra Schrackmann, sei in den «Harry Potter»-Geschichten zentral. Harrys Feind, Lord Voldemort, habe eine ähnliche Ideologie wie diejenige des Dritten Reiches. Ihn bekämpft Harry bis aufs Blut und besiegt ihn schliesslich.
Aber neben diesem offenen Rassismus gäbe es auch strukturellen Rassismus: «Harry ist ein weisser, männlicher Held. Unter den Hauptcharakteren gibt es nur wenige nicht-weisse Figuren», so Schrackmann.
Auch in Bezug auf Geschlechterbilder sei Harry Potter konservativ, beobachtet Petra Schrackmann. Das sei sicher auch auf Rowlings persönliche Erfahrungen zurückzuführen, die laut eigenen Angaben auf eine patriarchalisch geführte Schule in England gegangen ist.
Aber es gebe auch Anzeichen für die Erkenntnis, dass die in «Harry Potter» dargestellten Geschlechterbilder nicht mehr zeitgemäss seien, sagt Schrackmann: «In Rowlings Theaterstück ‹The Cursed Child›, zum Beispiel, wird gesagt, dass Hermine ‹Minister of Magic› geworden ist. Also auch wichtige, zentrale Funktionen werden später mit Frauen besetzt.»
Zum Klassiker geworden
In den letzten 25 Jahren hat «Harry Potter» viele inspiriert und ist dabei zum Klassiker geworden. Er erzählt die klassische Aussenseiter-Geschichte und spricht viele zeitlose und zum Teil existenzielle Themen an: unter anderem Freundschaft, Mut, Liebe, Macht, Angst, Machtmissbrauch, Opportunismus, Manipulation. Diese Themen bieten gesammelt einen vielschichtigen Blick auf die zentrale Geschichte: der Kampf des Guten gegen das Böse.
Dafür fliegt Harry Potter seit 25 Jahren auf seinem Besen – und wird es voraussichtlich noch lange tun. Er ist Teil des Literatur-Kanons geworden. Pippi Langstrumpf, Peter Pan und Pinocchio: Willkommen im Club, Harry Potter!