Die Hauptfigur des Romans, die zehnjährige Franzi, wohnt mit ihren Eltern im Ostberliner Stadtviertel Prenzlauer Berg. Altbauwohnung. Unbekümmerte Kindheit zwischen Hinterhof, Schule und Pionierlager.
Plötzlich sind die Erwachsenen um sie herum völlig aus dem Häuschen: Es ist die historische Nacht vom 9. November 1989: Die Mauer ist offen.
Franzi fährt mit ihrer Mutter in den Westen. Kulturschock. «Der Kurfürstendamm kam mir vor wie ein grosser Weihnachtsmarkt. Mitten im November.» Alles habe geleuchtet, erzählt Franzi, «sogar die Glasvitrinen auf den Bürgersteigen».
Eigenes Erleben
«Hufeland, Ecke Bötzow» ist der zweite Roman von Lea Streisand. Das Buch erzählt mit leichtfüssiger Sprache aus der Kinderperspektive von den welthistorischen Ereignissen vor 30 Jahren.
Der fantasievoll ausgeschmückte Detailreichtum des Buchs nährt sich zweifelsohne am persönlichen Erleben der Autorin: Lea Streisand wuchs wie Franzi im Prenzlauer Berg auf und war gleich alt wie diese, als die Mauer fiel.
Ein Kind, das die Welt noch nicht richtig erfasst, von historischen Ereignissen erzählen zu lassen: Dieses Konzept funktioniert. Der Roman fokussiert auf vermeintlich Nebensächliches und konterkariert dadurch gängige Darstellungen der Wende. Und auch der Zeit davor.
Wie gingen beispielsweise Kinder zu DDR-Zeiten mit der Mauer um? Im Fall von Franzi ist es so, dass sie mit ihren Freundinnen und Freunden im Innenhof «antifaschistischen Schutzwall» spielt: Einer aus dem Westen, diesem «magischen Ort», muss versuchen, an den anderen vorbei in die gelobte DDR zu gelangen. Köstlich.
Hintersinnige Komik
Es gibt viel Humor in diesem Roman. Aber er bleibt doppelbödig: Die Unmenschlichkeit des politischen Systems schwingt stets mit. So ist etwa die Lehrerin von Franzi seltsam unentspannt, weil sie unter staatlicher Beobachtung steht. Die Mutter von Franzi wiederum verzichtet aus Angst vor der Stasi auf ihre Unikarriere.
Durch diese gebrochene Erzählweise gelingt es Lea Streisand, Nostalgie zu vermeiden – und die DDR zu verklären.
Doppelte Wende
Der Roman erstreckt sich über die Wende hinaus auf das Jahrzehnt danach. Konsequent erzählt er von Franzis beschränktem Kosmos und damit von vermeintlichen Nebenschauplätzen: Russisch ist kein Pflichtfach mehr. Werbung dominiert das Strassenbild.
Den Einzug des Kapitalismus erlebt Franzi im Quartierladen: Die bisher kaltschnäuzigen Verkäuferinnen hinter den Tresen beginnen plötzlich, die Kundschaft zu grüssen.
Später dann wird Franzi zum Teenager: Hippiekleider, Haschisch, kein Fleisch mehr, das andere Geschlecht… Die äussere gesellschaftlich-politische Transformation vermengt sich mit der Persönlichkeitsentwicklung der Protagonistin.
«Deutschland versuchte zusammenzuwachsen, wir pubertierten. Beides verlangte Nerven wie Drahtseile.» Es sind pointierte Sätze wie diese, welche die Lektüre dieses Buchs bis zum Schluss zum Genuss machen – und uns einen neuen Blick erlauben auf vermeintlich Bekanntes.