Charlottenlund, Kopenhagen: Eine junge Frau sitzt in der Tram – auf dem Weg zu einer Abtreibung. Nur: Es sind die 1950er-Jahre. Der Schwangerschaftsabbruch ist in Dänemark verboten.
Auch darüber zu schreiben, erfordert grossen Mut. Denn das Verbot gilt zum Zeitpunkt der Publikation von Tove Ditlevsens Versen noch immer. Die dänische Autorin tut es trotzdem. Und zwar nicht literarisch verfremdet, sondern aus der Ich-Perspektive, in ihrer Autobiografie.
Lebensgefährliches Verbot
Das ist der Hintergrund dieser Erzählung. Sie heisst: «Für dich summ ich ein Wiegenlied». Obwohl Ditlevsen sie vor über 50 Jahren geschrieben hat, (be-)trifft sie junge Frauen noch heute.
Hörbücher von SRF – wann und wo Sie wollen. Erzählungen, Romane, Novellen. Gelesen von bekannten SchauspielerInnen und neuen Stimmen. Wenn Sie die Augen woanders haben müssen … Literatur gibt’s bei uns auf die Ohren! Klassiker und spannende Neuerscheinungen, aus der Schweiz und der ganzen Welt. Nach einer Pause produziert SRF Hörspiel in unregelmässigem Rhythmus wieder neue Lesungen und fischt Perlen aus dem Lesungs-Archiv.
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.
Die Ich-Erzählerin weiss nicht, was sie erwartet. Die Bücher, die eine Abtreibung erklären, mussten erst noch geschrieben werden. Bücher, in denen Abtreibungen vorkommen, auch. Dazu hat Ditlevsen ihren Teil beigetragen. Denn abgetrieben wurde immer. Ob in Dänemark oder in der Schweiz. Doch die Bedingungen sind unter einem Verbot lebensgefährlich. Damit konfrontiert uns Ditlevsen – und es tut weh.
Ambivalente Gefühle
«Vielleicht haben schon viele Frauen erlebt, was ich jetzt erlebe, aber man spricht nicht darüber», stellt die Protagonistin fest. Ihre Gefühle sind ambivalent. Sie ist erleichtert, ja froh. Und doch trauert sie. Bis heute gibt es gesellschaftliche Vorstellungen davon, welche Reaktionen auf eine Abtreibung angemessen sind und welche nicht. Abtreibungen müssen nicht traumatisch sein.
Von wie vielen Menschen in unserem Umfeld wissen wir, dass sie abgetrieben haben? Auch heute wird wenig darüber gesprochen. Auch heute existieren Scham- und Schuldgefühle. Auch heute werden Frauen, die abtreiben, mit Vorwürfen konfrontiert.
Verantwortung bei der Frau
Der Ehemann sagt nach der Abtreibung zur Protagonistin: «In Zukunft müssen wir besser aufpassen.» Auch wenn er «wir» meint, hängt die Verhütungsfrage meist an der Frau. Sie trägt die Konsequenzen einer Schwangerschaft allein. Im wortwörtlichen Sinn: Es ist ihr Körper, der das Ungeborene trägt.
Überraschend: Statt aufgrund dieser Ungerechtigkeit bitter zu werden, fühlt sich Ditlevsen in die Hilflosigkeit der Männer ein. Sie stellt fest, wie verloren die Ehemänner «in dieser Frauenwelt aus Blut und Übelkeit und Fieber» wirken.
Tragikomik und radikale Ehrlichkeit
Trotz aller Schwere muss man immer wieder lachen. Etwa, wenn Ditlevsen den «Engelmacher», wie Abtreibungsärzte früher genannt wurden, als «ein halbes Jahrhundert alt, klein und hölzern» beschreibt. Mit Mundwinkeln, die so weit nach unten hängen, «als hätte er noch nie gelächelt». Ihr Humor ist trocken und verzichtet auf Beschönigung. Ditlevsen schreibt unmittelbar und ohne Umwege. Das macht sie mutig und verletzlich zugleich. Eine unwiderstehliche Kombination.
Das Ende lässt eine grosse, warme Leere fühlen. Ditlevsen bündelt in einem letzten Absatz die widersprüchlichen Empfindungen der jungen Frau – poetisch verdichtet. Ihre Protagonistin steht mitten in der Nacht auf, holt Stift und Papier. Und dann folgt ein Gedicht für das abgetriebene Ungeborene: das Wiegenlied. Da stockt der Atem.