Schwangerschaftsabbrüche sind noch immer etwas, über das geschwiegen wird. Frauen, die abgetrieben haben, reden kaum darüber. Auch in der Literaturgeschichte finden sich nicht viele Beispiele.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts endeten die meisten ungewollten Schwangerschaften in der Literatur mit der Tötung des Neugeborenen. Bekanntestes Beispiel: Gretchen aus Goethes «Faust», die keine andere Lösung sieht, als ihr Kind zu ertränken.
Erst Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Abtreibungen vereinzelt in Erzählungen vor. Allerdings standen damals nicht die Nöte der Frauen im Zentrum. Vielmehr ging es um ihre angeblichen moralischen Verfehlungen und ihr «unsittliches Verhalten», die sie überhaupt erst in die Lage gebracht hätten, abtreiben zu müssen.
Inzwischen wagen sich mehr Autorinnen und Autoren an das Thema heran. Die Moralisierung nimmt ab, der Facettenreichtum der Darstellungen wird grösser – und damit auch den jeweils ganz unterschiedlichen Erfahrungen Betroffener gerechter. Nicht zuletzt bereichern auch einige einst verschütt gegangene Wiederentdeckungen derzeit den Markt. Hier eine Auswahl an Büchern, die von Schwangerschaftsabbrüchen handeln:
1. Charlotte Gneuss und Laura Weber: «Glückwunsch. 15 Erzählungen über Abtreibung»
Eine grosse und anregende Bandbreite an Abtreibungstexten versammelt der soeben erschienene Erzählband «Glückwunsch». Das leuchtend bunte Cover bricht mit gängigen Erwartungen, ebenso der Titel: «Glückwunsch».
Normalerweise beglückwünscht man eine Frau zur Schwangerschaft. Warum nicht auch mal «Glückwunsch!» sagen, wenn eine Frau eine klare Entscheidung für sich getroffen hat – auch wenn es eine Entscheidung gegen ein Kind ist?
Die 15 Texte in «Glückwunsch» sind vielfältig. Die Schweizer Autorin Yael Inokai etwa liefert eine Utopie über stressfreie Abtreibungen zu Hause. Und die 1981 in St. Petersburg geborene Lena Gorelik reflektiert die Abtreibungsmaschinerie in der Sowjetunion; auf eine Geburt kamen dort vier Abtreibungen. Besonders erfrischend an diesem Sammelband: dass auch Männer Geschichten beigesteuert haben.
2. Penelope Mortimer: «Bevor der letzte Zug fährt»
Eine wunderbare Wiederentdeckung aus dem Jahr 1958, die gerade erstmals auf Deutsch erschienen ist: Die Geschichte spielt in Grossbritannien und handelt von der 37-jährigen Ruth Whining, die sich in ihrem Dasein als Hausfrau furchtbar langweilt.
Als ihre 18-jährige Tochter ungewollt schwanger wird, erinnert sich Ruth daran, dass sie selbst viel zu jung Mutter wurde. Nun tut sie alles dafür, um wenigstens ihrer Tochter eine freie Entscheidung – und ein freies Leben – zu ermöglichen.
3. Claudia Piñeiro: «Kathedralen»
Eine weitere aktuelle Neuerscheinung: Claudia Piñeiro, eine der erfolgreichsten argentinischen Autorinnen, stellt eine erzkatholische Familie ins Zentrum ihres spannenden Romans. Vor dreissig Jahren kam eines ihrer Mitglieder ums Leben: die damals 17-jährige Ana. Ihr Körper wurde zerstückelt und verbrannt.
Dass Ana infolge einer heimlichen Abtreibung starb, erfährt man bald. Und dann schaut man lesend dabei zu, was Schweigen, Wegsehen und religiöser Fanatismus alles anrichten können.
4. Tove Ditlevsen: «Abhängigkeit»
Die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917-1976) gehört zu den beeindruckendsten Wiederentdeckungen der vergangenen Jahre. Ihre autobiografisch geprägte Kopenhagen-Trilogie spielt zwischen den 1920er- und 1950er-Jahren und besteht aus den Romanen «Kindheit», «Jugend» sowie «Abhängigkeit». 2021 erschien die Trilogie erstmals auf Deutsch.
Der dritte Teil, «Abhängigkeit», zeigt – ähnlich wie später «Das Ereignis» von Annie Ernaux –, in welch gefährliche Situationen sich Frauen begeben müssen, wenn Abtreibungen offiziell verboten sind: Ein Medizinstudent spritzte Ditlevsen seinerzeit ein opioides Schmerzmittel. Nach dem Eingriff war sie abhängig.
5. Annie Ernaux: «Das Ereignis»
«Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern, und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt», schreibt die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux in «Das Ereignis».
Das Buch handelt von ihrer eigenen Erfahrung, im Frankreich der 1960er-Jahre abtreiben zu wollen. Schwangerschaftsabbrüche waren damals illegal. Ernaux wäre nach dem Besuch einer sogenannten Engelmacherin beinahe verblutet. Das nur 100 Seiten dünne Werk geht unter die Haut. 2000 in Frankreich erschienen, wurde es erst über 20 Jahre später ins Deutsche übersetzt.
6. Lotta Elstad: «Mittwoch also»
Nach einem One-Night-Stand ist Hedda ungewollt schwanger. Sie möchte schnellstmöglich abtreiben, doch das norwegische Gesundheitssystem schreibt drei Tage Bedenkzeit vor. Es gelten nur Werktage. Und da der Tag des ersten Arztbesuchs nicht mitzählt, werden aus drei Tagen Bedenkzeit schon mal sechs. Sechs Tage lang muss Hedda nun also grübeln. Staatlich verordnetes Nachdenken.
Die Norwegerin Lotta Elstad hat mit «Mittwoch also» einen scharfsinnigen und witzigen Roman geschrieben. Ein humorvolles Buch über Abtreibung – auch das ist möglich.
7. John Irving: «Gottes Werk und Teufels Beitrag»
Irvings Buch war ein Bestseller. Für den zugehörigen Film, zu dem er selbst das Drehbuch geschrieben hatte, erhielt der amerikanisch-kanadische Schriftsteller einen Oscar: Mit «Gottes Werk und Teufels Beitrag» hat John Irving ein Plädoyer für die Selbstbestimmung der Frau geschrieben – und das aus rein männlicher Perspektive.
Das Buch handelt von dem Waisenjungen Homer Wells. Dieser lehnt Abtreibungen zunächst ab, nach einigen eindrücklichen Erfahrungen mit der Realität ändert er seine Meinung jedoch. Fortan nutzt er seine medizinische Ausbildung, um Frauen zu helfen.