Das Verschwinden ist bei Christian Kracht ein bewährtes Motiv. Auch in «Air» steht es im Mittelpunkt, als eine typische Kracht-Figur vom Erdboden verschluckt wird. So landet ein stilbewusster, der Moderne überdrüssiger Mann auf einem ganz anderen Planeten – und die Lesenden in einer Art Fantasy-Roman.
Teure Leere
Am Anfang findet man sich noch zurecht in der Kracht-Welt. Paul, ein Schweizer Inneneinrichter, ist besessen von exquisiten Oberflächen. Zurückgezogen hat er sich so weltabgewandt wie stilvoll auf den schottischen Orkneyinseln. Sein Auge für Farbe stellt er in den Dienst einer übersättigten Welt. Er verleiht Immobilien eine «Anima», mit «seladongrünen Wänden» und ungebleichten Schafwollteppichen.
Den Überdruss an einer übersättigten Welt zeichnet Kracht mit Humor: «Foraging»-Restaurants, die Paul für die Avantgarde des skandinavischen Designs einrichtet, zelebrieren Kargheit. Die Gäste geniessen handgesammelte Moose und «windgefaulten, übelriechenden Kabeljau».
Verloren in der Cloud
Paul erhält den Auftrag, ein «perfektes Weiss» für einen Datenspeicher in Norwegen zu finden. Hier materialisiert sich die «Cloud»: Ein gigantischer Raum, in dem «Trillionen Bilder vibrieren, eine so unvorstellbar grosse Menge an Geschichten, dass sie ein eigenes Universum darstellen». Als Paul den Raum durchmisst, verschwindet er spurlos.
Der Designer taucht als «Der Fremde» in einer Fantasy-Landschaft wieder auf. Mit einem tapferen, klugen Mädchen namens Ildr zieht er durch eine mittelalterliche Welt, die aus Gut und Böse besteht.
In diesem harten, entbehrungsreichen Leben tauchen die kargen Dinge aus Pauls altem Dasein wieder auf: steinerne Krüge mit eiskaltem Wasser, der rohe Fisch, sogar Details aus Pauls Restaurant-Designs in einer mysteriösen Stadt. Das gemeinschaftliche Leben der dortigen Bewohner beschreibt der Roman als Idylle eines nordischen Naturvolkes.
Worauf Kracht mit der Heldenreise von Paul hinaus will, ist das grosse Rätsel von «Air». Noch stärker als sonst fordert er Leserinnen und Kritiker damit heraus – denn dieses Märchen entzieht sich klaren Interpretationen und bietet Raum für vielfältige Lesarten. Das Rätselraten, das Kracht-Fans lieben, darf beginnen.
Viele Fragezeichen
Die aktuelle Runde im SRF-Literaturclub besteht aus Menschen, die Kracht schon lange begleiten. Doch auch hier herrscht Ratlosigkeit. Autorin Nina Kunz, langjähriger Kracht-Fan, erkennt in «Air» am ehesten «ein Buch über Männlichkeit und den Wunsch, in eine Welt einzutauchen, in der es Gut und Böse gibt und man etwas mit den Händen macht». Doch wirke die nihilistische Langeweile angesichts der aktuellen Weltlage etwas aus der Zeit gefallen.
Elke Heidenreich hat das Buch eher amüsiert gelesen. Sie findet Kracht immer faszinierend, auch wenn er scheitert. «Und hier scheitert er rasant», so die Kritikerin.
Am ehesten hat das Buch noch Theater- und Opernregisseur Thom Luz überzeugt. Er hat sich zwar erst so geärgert, dass er das Buch ein zweites Mal gelesen hat. Doch dann entdeckte er Hinweise, wie Krachts Fantasy-Welt konstruiert ist: «Es ist eine Jenseitsreise.»
Viel enthusiastischer ist die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, der Ende März verliehen wird. Sie hat «Air» schon vor Erscheinen als eines der besten Bücher dieses Jahres nominiert und findet das literarische Rätsel einfach «berauschend».