Eine Schweizerin und ein Schweizer haben es im März auf die SRF-Bestenliste geschafft. Die übrigen Platzierungen verteilen sich auf Romane aus Korea, England und Österreich. Scrollen Sie los! Hier die im März von der Jury gekürten Lese-Highlights im Countdown.
5. Han Kang: «Unmöglicher Abschied» (21 Punkte)
«Unmöglicher Abschied», der neue Roman der Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang, erzählt die Geschichte einer Frauen-Freundschaft. Zugleich beleuchtet er ein lange verdrängtes Kapitel koreanischer Geschichte: ein Massaker auf der Insel Jeju, bei dem Zehntausende Menschen ums Leben kamen.
Han Kangs zarte Prosa steht in starkem Kontrast zu den grausamen Ereignissen, über die sie schreibt. Der Roman changiert zwischen Realität und Imagination, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein Buch über die Verwundungen, die in einer Landschaft zurückbleiben, in der brutal gemordet wurde.
Han Kangs Sprache und die surrealen Bilder wirken wie ein Sog: Orte und Zeiten vermischen sich, Verstorbene werden lebendig und erzählen von einem traurigen Kapitel der koreanischen Geschichte. Dazu schneit es ohne Ende.
4. Sara Gmuer: «Achtzehnter Stock» (25 Punkte)
«Achtzehnter Stock» ist der zweite Roman der in Berlin lebenden Schweizer Autorin Sara Gmuer. Er handelt von der Schauspielerin Wanda, die in einem Plattenbau lebt – im achtzehnten Stock. Der Lift ist defekt, das Treppenhaus ein Funkloch, und das Leben als Filmstar, von dem Wanda immer geträumt hat, scheint weit entfernt.
Doch Wanda gibt nicht auf, geht von Casting zu Casting. Eines Tages bekommt sie dann tatsächlich die Hauptrolle in einer Netflix-Serie. Glatt läuft ihre Karriere ab dann trotzdem nicht. Ein Roman voller Drive, erzählt in einem gnadenlos direkten Ton.
Spannend, rau und schonungslos beschreibt Sara Gmuer das Wandeln ihrer Hauptfigur zwischen reicher Glitzerwelt und Berliner Platte.
3. Samantha Harvey: «Umlaufbahnen» (28 Punkte)
Sechs Astronauten schweben in einer Raumstation durchs All. Sie umkreisen die Erde in 90 Minuten. Die zwei Frauen und vier Männer unterschiedlicher Herkunft arbeiten, essen und schlafen auf engstem Raum. Schwerkraft und Zeitempfinden sind ausser Kraft gesetzt. Wie verändern sich ihr Denken und Fühlen?
Samantha Harvey hat mit «Umlaufbahnen» im vergangenen Jahr den renommierten Booker Prize gewonnen. Sie beschreibt den «All-Tag» auf der ISS – und die Schönheit der Erde, wenn man sie von oben betrachtet. Ein poetischer Appell zur Rettung unseres Planeten, ganz ohne Kitsch und Zeigefinger.
Von naturwissenschaftlichen zu philosophischen Fragen, vom ganz Persönlichen zum Universellen – ein leises, poetisches Buch, das uns die aktuelle Weltlage aus mehr Distanz betrachten lässt.
2. Jonas Lüscher: «Verzauberte Vorbestimmung» (38 Punkte)
Der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher erkrankte während der Covid-Pandemie so schwer, dass er ins künstliche Koma versetzt werden musste. Über Wochen hing sein Leben ab von Schläuchen und Geräten. Über Wochen halluzinierte er. Realität und Träume vermengten sich, sein Körper und die Maschinen auch.
Aus dieser Abhängigkeitserfahrung von der Technik ist Lüschers neuer Roman «Verzauberte Vorbestimmung» entstanden. Ein komplexes Buch, das die Beziehung zwischen Mensch und Maschine thematisiert. Eine Lese-Expedition voller Rätsel zu verschiedenen Realitäts-, Orts- und Zeitebenen.
Jonas Lüscher hat mich erneut verblüfft, fasziniert, gefordert. Sein neuer Roman ist noch komplexer als ‹Kraft›, noch rätselhafter, wohl auch nicht bis ins Letzte ergründbar.
1. Wolf Haas: «Wackelkontakt» (56 Punkte)
Der Roman-Inhalt in Kürze: Franz Escher wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest er ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo. Elio sitzt im Gefängnis. Er hat so viele Leute verraten, dass er um sein Leben fürchtet. Aus Angst liegt er nachts wach und liest ein Buch. Es handelt von Franz Escher. Der wartet auf den Elektriker.
Ein Mann liest also ein Buch über einen Mann, der ein Buch über diesen Mann liest. «Wackelkontakt» ist ein ein typischer Wolf-Haas-Roman. Raffiniert konstruiert und voller (Sprach-)Witz. Einfach elektrisierend – und schon zum zweiten Mal auf Platz 1 der SRF-Bestenliste!
Ein brillant konstruierter Roman in Form einer Doppelhelix. Und natürlich wie immer bei Wolf Haas: ganz viel österreichischer Schmäh.