Erstmals hat es ein Gedicht auf die SRF-Bestenliste geschafft: «die spinne» von Eva Maria Leuenberger belegt Platz 3. Ganz oben auf dem Siegertreppchen steht ein elektrisierender Roman aus Österreich. Scrollen Sie los! Hier die im Februar von der Jury gekürten Lese-Highlights im Countdown.
5. Thomas Strässle: «Fluchtnovelle» (19 Punkte)
Die Geschichte einer Republikflucht: 1965 verlieben sich ein Student aus der Schweiz und eine Studentin aus der DDR ineinander. Beide sehen keine gemeinsame Zukunft in der DDR, auswandern ist aber nicht erlaubt. Nachdem die beiden erfolglos sämtliche legalen und halblegalen Möglichkeiten abgeklopft haben, entscheiden sie sich für eine waghalsige Aktion.
Der Literaturwissenschaftler und -kritiker Thomas Strässle erzählt in diesem Buch die Geschichte seiner Eltern. Ein Krimi ohne Tote, ohne Action, aber mit Spannung – und mit einem Happy End, denn sonst gäbe es den Autor nicht.
Thomas Strässle vermischt gekonnt Familien- und Zeitgeschichte. Ein fesselndes und berührendes Buch. Absolut lesenswert!
4. Behzad Karim Khani: «Als wir Schwäne waren» (20 Punkte)
In einer Plattenbausiedlung im Ruhrpott wächst Reza auf, dessen Eltern mit ihm in den 1990er-Jahren aus dem Iran nach Deutschland geflohen sind. In den Küchen der Wohnsiedlung gibt es keine Dunstabzüge. In den Fluren riecht es nach Armut, Majoran und Etagenbetten. Auf den Strassen herrscht Gewalt.
In «Als wir Schwäne waren» verarbeitet der deutsch-iranische Autor Behzad Karim Khani seine eigene Geschichte: Wütend und poetisch zugleich rechnet er ab mit der sogenannten deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Einwanderer unentwegt daran erinnert, dass sie nur Gäste sind.
Zärtlichkeit und Schmerz: Auch in seinem zweiten Roman erweist sich Behzad Karim Khani als genauer Beobachter einer fremden Heimat, die ihrem Protagonisten nichts schenkt. Dennoch findet er einen Weg zur Sprache, den der schweigsame Vater ihm vorzeichnet.
3. Eva Maria Leuenberger: «die spinne» (24 Punkte)
Eva Maria Leuenberger ist Jahrgang 1991 und stammt aus Bern. Mit «die spinne» hat es erstmals ein Gedicht auf die SRF-Bestenliste geschafft. In dem knapp 100-seitigen Werk spricht ein verzweifeltes «Flügchen» auf dem Bett zu sich selbst. Vor dem Fenster brennt die Welt, und das Eis schmilzt. Die Erderwärmung lässt sich nicht mehr leugnen.
Dieses Langgedicht liest sich wie ein Mini-Roman. Ein eindringliches Buch darüber, wie wir mit Gefühlen wie Schuld und Ohnmacht gegenüber der Klimakrise umgehen.
Radikal reduziert, maximal geschärft – so muss aktuelle Lyrik sein.
2. Julia Schoch: «Wild nach einem wilden Traum» (35 Punkte)
«Wild nach einem wilden Traum» ist der letzte Teil von Julia Schochs Trilogie «Biographie einer Frau». Die Ich-Erzählerin, eine mittelalte Schriftstellerin, erinnert sich darin an eine Affäre zurück: an eine Affäre, die sie als junge Frau mit einem Katalanen hatte. Aber warum muss sie ausgerechnet jetzt wieder an ihn denken? Und welche Lehren kann sie aus dieser Erinnerung ziehen?
Julia Schoch, 50 Jahre alt und aus Ostdeutschland stammend, schreibt – das ist ihr Markenzeichen – in simplen Sätzen, die es aber hin sich haben. Die kleinste, scheinbar banalste Alltagsbeobachtung verwandelt sie in Philosophie.
Julia Schochs Schreiben schillert durch seine Schlichtheit. Jeder Satz sitzt und bringt ihre dem Alltäglichen und dem Leben verschriebene Literatur zum Leuchten.
1. Wolf Haas: «Wackelkontakt» (46 Punkte)
Der Roman-Inhalt in Kürze: Franz Escher wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt. Um sich die Zeit zu vertreiben, liest er ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo. Elio sitzt im Gefängnis. Er hat so viele Leute verraten, dass er um sein Leben fürchtet. Aus Angst liegt er nachts wach und liest ein Buch. Es handelt von Franz Escher. Der wartet auf den Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt.
Ein Mann liest also ein Buch über einen Mann, der ein Buch über diesen Mann liest. «Wackelkontakt» ist ein ein typischer Wolf-Haas-Roman. Raffiniert konstruiert und voller (Sprach-)Witz. Einfach Elektrisierend!
Ein brillant konstruierter Roman in Form einer Doppelhelix. Und natürlich wie immer bei Wolf Haas: ganz viel österreichischer Schmäh.