«Eine Fluchtgeschichte, wie man sie noch nie gelesen hat»: Das verspricht der Buchrücken vollmundig. Ganz falsch ist das nicht. Wenn man mit «Fluchtgeschichte» die Bilder von erschöpften Menschen verbindet, die mit ihren Habseligkeiten ausgezehrt an einer Grenze stehen, dann erzählt dieses schmale Bändchen eine ganz andere Geschichte. Es ist die Nacherzählung einer eher unspektakulären Republikflucht im Jahr 1966 aus der DDR.
Liebe zwischen der DDR und der Schweiz
Thomas Strässle erzählt wie mit der Lupe und führt uns so die historischen Hintergründe und die Details der Fluchtgeschichte glasklar vor Augen. 27 kurze, dichte Kapitel mit launischen Titeln wie «Bierhallenblues» und «Stempeletüden» erschaffen Stück für Stück ein bemerkenswertes Gesamtbild.
Die Handlung ist schnell erzählt: 1965 verlieben sich in Berlin ein Student aus der Schweiz und eine Studentin aus der DDR ineinander. Beide sehen keine gemeinsame Zukunft in der DDR. Der Staat verbietet ihr jedoch das Auswandern. Nachdem die beiden beharrlich, aber erfolglos die legalen und halblegalen Möglichkeiten abgeklopft haben, entscheiden sie sich für eine waghalsige Aktion unter dem Motto: Wenn es mit der Ausreise nicht klappt, dann halt mit der Einreise.
Der Plan: Sie treffen sich in Prag, wohin auch sie als DDR-Bürgerin reisen darf. Dort wechselt sie ihre Identität und fliegt als Schweizerin mit ihm nach Zürich. So viel sei verraten: Die Republikflucht gelingt, sonst gäbe es den Autor nicht. Denn wir lesen hier die wahre Geschichte von Thomas Strässles Eltern.
Erinnerung und historische Fakten
Wie sich die beiden kennengelernt haben, erfahren wir aus mehreren realen Erinnerungsdialogen. Diese Gespräche hat notabene nicht der Sohn geführt, sondern schon 1975 der Schriftsteller Herrmann Burger, der an dem Stoff interessiert war, dann aber nie etwas Konkretes daraus machte.
Die historischen Umstände und das Private berühren sich besonders in den Behördenkontakten und Abklärungen. Wir erfahren von den «Freiheitlichen Juristen», die damals innerdeutsche Familienzusammenführungen organisierten. Sie empfahlen dem Vater, erst mal drei Kinder zu machen und dann wiederzukommen. Ein Studentenanwalt wollte es für 50'000 DM richten – viel zu viel für die beiden Studierenden.
Literarischer Text mit historischen Dokumenten
Schliesslich der Plan mit dem Identitätswechsel: Wie eine Bekannte dem Vater den grossen Gefallen tut, in der Schweiz einen Pass mit dem Bild seiner DDR-Freundin ausstellen zu lassen. Wie aufwändig der Vater den Einreisestempel der Tschechoslowakischen Republik fälscht, damit der gemeinsame Flug von Prag nach Zürich wie ein Rückflug aussieht. Und wie der Plan am Ende beinahe an einer absurden Panne scheitert: Der Einreisestempel in die CSSR hat gewechselt.
Eingewoben in den Text sind historische Dokumente: Auszüge aus den damaligen Strafgesetzbüchern, deren Zuchthausdrohung einem bewusst macht, dass es hier nicht um einen Bubenstreich geht.
Zum Glück war da die Fussball-WM
Dass die Flucht gelingt, liegt ein bisschen auch an der Fussball-WM in England. Am Tag der illegalen Ausreise spielt die Sowjetunion gegen Italien. Die tschechischen Zollbeamten interessieren sich «mehr für die Pässe von Fussballern als von Reisenden».
Ein Glück für die Eltern, für den Autor und auch für uns Lesende.