Bernhard Cloetta und Alex Baumgartner gehören zu den wenigen Schweizern, welche in die Fänge der Staatssicherheit der DDR gerieten. Dass die beiden Studenten im Jahr 1964 Fluchtrouten auskundschafteten, passte der Stasi gar nicht. Vor 55 Jahren sassen sie im berüchtigten Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen – und die Schweiz setzte die DDR unter Druck, um die beiden wieder rauszuholen.
Im Jahr 1962 wird der Liestaler Lehrer Alex Baumgartner bei einer Berlinreise auf die Fluchthilfeorganisationen in Berlin aufmerksam. Er besucht mit der Liestaler Lehrervereinigung Vorträge der Fluchthelfer. Noch auf derselben Reise beschliesst er, dass er helfen will, «obwohl ich zuerst skeptisch war», wie er sich heute erinnert. Er macht einen Kurierdienst für die Fluchthelfer und bringt Bargeld, gefälschte Papiere und Blumen rüber in den Osten.
Eine weitere Reise steht im Jahr 1963 an. Baumgartner beschliesst, sich an der Freien Universität einzuschreiben. Er bleibt in Berlin und führt seine Fluchthilfe fort. Insgesamt macht er vier Fahrten als Kurier nach Ostberlin sowie mehrere Testfahrten. Auf diesen soll er auskundschaften, auf welchen Routen die Flucht für DDR-Bürger möglich ist. Dafür reist er bis nach Skandinavien. Und er lernt von den Profis: «Ich bekam mit, wie die das machen. Wir fälschten Papiere und Stempel der ehemaligen DDR».
In der gleichen Zeit lernt er Bernhard Cloetta kennen. Der Ostschweizer studiert ebenfalls in Berlin. Sie werden Freunde. Die beiden geniessen das Privileg, auch Ostberlin besuchen zu können. Etwas, das Westberlinern zu dieser Zeit nicht erlaubt ist. Doch Baumgartner verlobt sich und verspricht seiner künftigen Braut, den Fluchthilfeorganisationen den Rücken zu kehren. Ein Jahr lang macht er gar nichts mehr.
Eine verhängnisvolle Testfahrt
Bis ihn der Fluchthelfer Wolfgang Bubenzer für eine letzte Testfahrt nach Skandinavien anfragt. Baumgartner zögert, sagt aber zu. Er fragt Bernhard Cloetta, ob er ihm dabei helfen wolle. Einen Tag später, am 24. November 1964, soll es bereits losgehen. «In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht, weil ich Angst hatte», erinnert sich Cloetta.
Die beiden sollen eine Fluchtroute nach Skandinavien testen und gleichzeitig einem DDR-Bürger zur Flucht verhelfen. Gelöst wird ein Visum in Ostberlin. Dann fahren die beiden nach Bayern an die südliche DDR-Grenze und steigen in den Zug Richtung Norden. Baumgartner steigt in Westberlin aus, Cloetta in Ostberlin, wo sein Pass mit einem Einreisestempel versehen wird.
Ein Kurier holt dann die Papiere Cloettas in Ostberlin ab und schmuggelt sie in den Westen zurück. Dort werden in Baumgartners Pass Einreisevermerke für die DDR eingetragen – als Vorlage dient Cloettas Pass.
Baumgartner reist mit einem gefälschten Personalausweis der BRD in Ostberlin ein – seinen Schweizer Pass mit dem gefälschten Einreisestempel versteckt er. Der gefälschte Personalausweis ermöglicht kurz danach einem DDR-Bürger, der Baumgartner ähnlichsieht, die Flucht.
Cloetta und Baumgartner besteigen den Zug, der sie über die Fährverbindung von Sassnitz nach Malmö in Schweden bringen soll. In Sassnitz auf der Ostseeinsel Rügen werden sie von der DDR-Transportpolizei aus dem Zug geholt und verhört. Später erfahren sie: Der Durchmesser des gefälschten Stempels in Baumgartners Pass ist um drei Millimeter zu gross.
Die beiden werden in eine Baracke gebracht und ein erstes Mal bis in die Morgenstunden verhört. Von einem umgebauten Lieferwagen mit winzigen, fensterlosen Zellen werden sie abgeholt. Acht Stunden dauert die Fahrt ins berüchtigte Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen in Berlin. «Eine angenehme Fahrt war das nicht», sagt Cloetta heute, er erinnere sich an die Enge. Fast acht Monate verbringen Baumgartner und Cloetta von nun an im Gefängnis.
250 Tage im Stasi-Knast
Die weiteren Verhöre beginnen noch in der ersten Nacht. Bis frühmorgens. Die beiden geben alle Anschuldigungen, die gegen sie vorgebracht werden, zu. Doch es sollten nicht die letzten Verhöre bleiben. Cloetta wird insgesamt 13 Mal verhört. Die Beamten stellen rasch fest, dass er nur eine untergeordnete Rolle spielt bei der Fluchthilfe.
Baumgartner jedoch muss gut 115 Verhöre über sich ergehen lassen, weil er schon länger als Fluchthelfer aktiv war. Die Stasi-Beamten glauben, mit ihm einen grossen Fisch an Land gezogen zu haben. Denn: Sie vermuten, dass er Teil der bekannten Fluchthelferorganisation um Detlev Girrmann ist. Diese hatte im Oktober 1964 einen Tunnel direkt unter der Mauer gegraben – bei der anschliessenden Fluchthilfeaktion starb jedoch ein Grenzsoldat. Nun suchte die DDR einen Sündenbock – und glaubte, diesen in Baumgartner gefunden zu haben.
Die Verhörprotokolle der Stasi zielen jeweils stark an der Wahrheit vorbei. «Man musste immer unterschreiben, wenn man vernommen worden ist. Und da musste man verdammt gut aufpassen, damit sie einen nicht reingelegt haben», sagt Baumgartner. «Und häufig ersetzten sie unsere Worte mit DDR-Jargon», erinnert sich Bernhard Cloetta.
Die offizielle Schweiz schaltet sich ein
Nach der Verhaftung am 24. November 1964 vergeht fast eine Woche, bis die Nachricht die Schweiz und damit die Eltern der beiden Studenten erreicht. Diese schreiben die CVP-Nationalräte Julius Binder und Paul Eisenring an und engagieren einen Rechtsanwalt.
Die Nationalräte üben Druck auf das damalige Eidgenössische Politische Departement EPD (heute: EDA) aus: Man solle die Visa-Gesuche von DDR-Bürgern zurückhalten – und so Druck aufbauen. Weil die DDR der Forderung nach der Freilassung von Cloetta und Baumgartner nicht nachkommt, verschärft das EPD nach dreieinhalb Monaten Haft die Visa-Praxis.
«Pässe und Visa für DDR-Bürger, die in die Schweiz wollten, wurden verweigert», sagt der Politologe und Diplomatieexperte Enrico Seewald. Er hat die Beziehungen zwischen der Schweiz und der DDR eingehend untersucht.
Die Schweizer Behörden machen sich zunutze, dass Genf Sitz vieler internationaler Organisationen ist – und die einzige DDR-Vertretung im Westen damals in Genf. Die neue Schweizer Visapolitik verunmöglicht weitgehend Reisen von DDR-Diplomaten. «Das hat den Funktionären in Ostberlin wirklich wehgetan», sagt Seewald. Sie hätten Angst gehabt, von der internationalen Bühne zu verschwinden.
Im DDR-Aussenministerium macht man sich entsprechende Sorgen und man drängt die Stasi darauf, die beiden Schweizer freizulassen. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, lässt sich jedoch nicht umstimmen: «Er meinte, die kann man nicht rauslassen, weil sie schlimme Verbrechen begangen haben», sagt Seewald. Die ohnehin schlechten Beziehungen zwischen der Schweiz und der DDR erreichen einen Tiefpunkt.
Das Schicksal in Ulbrichts Händen
Aber der Druck aus Bern wirkt: Anfang Juli erhebt der Staatsanwalt Anklage gegen die beiden Schweizer. Ende Juli 1965 beginnt der Prozess gegen Baumgartner und Cloetta. Die beiden sind nun 243 Tage in den Fängen der Stasi.
Bernhard Cloetta erinnert sich: «Nach aussen sieht alles aus wie bei uns. Das Ganze war aber inhaltlich so etwas wie ein Theater.» Rechtsanwalt Vogel betont, die beiden seien keine professionellen Täter. Zudem sei die Grösse des angerichteten Schadens nicht so bedeutend – und er meint damit, dass Fluchthilfe für alte Leute weniger dramatisch gewesen wäre als für Leute, die arbeitstätig sind.
Zwei Tage dauerte der Prozess. Die Urteile: Zweieinhalb Jahre für Cloetta, wegen Menschenhandel – sieben Jahre für Baumgartner. Der Staatsanwalt jedoch verzichtet auf den Weiterzug des Urteils. Damit wird der Weg frei für die beiden Schweizer. Der Staatsanwalt stellt bereits am 31. Juli dem Gericht den Antrag auf Strafaussetzung für Cloetta. Für Baumgartner jedoch muss dies eine höhere Stelle entscheiden. Aus den Akten lässt sich heute sagen: Der damalige Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht höchstpersönlich entscheidet über das Schicksal der beiden Schweizer.
Am 2. August 1965 werden Cloetta und Baumgartner, begleitet von Stasi-Offizieren, am Checkpoint Charlie der Schweizer Delegation in Westberlin übergeben. Noch am gleichen Tag hebt die Schweiz die Visa-Sperre auf. Für Baumgartner und Cloetta ist die Sache noch nicht zu Ende. «In der Schweiz hatte das für uns ein grosses Nachspiel. Wir wurden fast zwei Wochen verhört», sagt Baumgartner. Der Schlussbericht ist mit den Verhörprotokollen fast 40 Seiten lang. Konsequenzen hat ihr Handeln in der Schweiz aber keine.
Die offizielle Schweiz handelt nach diesem Vorfall, weiss Diplomatie-Experte Enrico Seewald. Sie erstellt ein Merkblatt für Schweizer, die sich in West-Berlin anmelden: «Die Leute wurden darauf hingewiesen, dass die Delegation keine Interventionsmöglichkeit bei den DDR-Behörden hat», sagt Seewald. Ihm sei kein anderes Land bekannt, das diese Massnahme zur Eindämmung der Fluchthilfe getroffen hat.
Cloetta und Baumgartner beenden danach ihr Studium in Berlin. Cloetta schweigt lange darüber und schämt sich, dass er gegenüber der Stasi nicht mehr Widerstand gezeigt hat. Besonders prägend ist dabei ein Besuch der heutigen Gefängnis-Gedenkstätte Hohenschönhausen. «Dort fiel der Satz: ‘Wer von Heldengeschichten von Hohenschönhausen erzählt, der lügt oder war nicht hier’» – das hätte ihn dazu bewegt, seine Geschichte zu erzählen.
Radio SRF 4 News, Zeitblende, 7.3.2020, 10:03 Uhr.