Anna Stern entwickelt ab dem ersten Satz ihres neuen Buchs mit dem eigenwilligen Titel «blau der wind, schwarz die nacht.» den für sie typischen Sog: «man hat es ja gewusst. eigentlich. hat gewusst, dass es irgendwann so kommen wird.»
Damit ist der Grundtenor gelegt: Das Unheil ist unentrinnbar. So steht es in direkter und präziser Sprache. Auch sie ist typisch für die 33-jährige promovierte Naturwissenschaftlerin. Ebenso die konsequente Kleinschreibung.
Erschütterungen der Identität
Anna Stern schildert eine Welt, in der die Menschen keinen Tritt zu fassen vermögen. Sei es Krieg, Covid oder der drohende Klimakollaps – diese und andere Bedrohungen fressen sich in die Seelen der Menschen.
Um Erschütterungen ging es auch in Anna Sterns Roman «das alles hier, jetzt» über den Schmerz von Hinterbliebenen nach einem jähen Todesfall. Dafür ist die gebürtige Ostschweizerin vor drei Jahren mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet worden.
Taumelnde Figuren
Die Verunsicherung und der Verlust von Halt sind auch im neuen, mittlerweile sechsten Buch von Anna Stern omnipräsent. Da gibt es die Figur Maria. Schuldgefühle treiben sie in die Depression, weil sie sich – wenn auch zu Unrecht – verantwortlich fühlt für den Tod des ungeborenen Kindes eines befreundeten Paars.
Oder Lukas: Er verliert sich in einem Internet-Livestream aus einem Nationalpark in Alaska und bricht jeglichen Kontakt zur Aussenwelt ab.
Oder Julius: Er spürt, dass er und eine einst umworbene Frau sich nichts mehr zu sagen haben: «er schaut sie an und auch ihr blick ist hart, kalt fast, nichts mehr mit wunderkerzen jetzt, und er schaut wieder weg, schaut auf den markt hinaus, auf das treiben, auf den regen».
Literarische Collage
Anna Sterns Buch ist kein Roman im klassischen Sinn, sondern eine Montage einzelner Kapitel, die sich unterschiedlichen Figuren widmen und inhaltlich nur lose aufeinander bezogen sind. Gemeinsam ist den Texten die literarische Experimentierlust, welche die Autorin im Vergleich zu ihrem letzten Roman noch einmal radikalisiert hat.
Lustvoll spielt sie mit Einschüben aus dem Englischen und sprachlichen Neuschöpfungen. Innere Monologe, Ausschnitte aus Reden, Dialoge, Chatprotokolle wechseln sich ab. Gelegentlich gibt es nur Gedankenfetzen zu lesen, Halbsätze mit offenem Ende.
Bei all dem entwickelt das Buch viel Poesie. So heisst es beispielsweise über einen Sonntag, der Öde und Langeweile verheisst: «ist ein sonntag. alles schlimmer an sonntagen. aufwachen, aufstehen, wie aufstehen, wenn der tag, wenn der tag endlos, wenn alles einfach. geht nicht.»
Fest der Farben
Die innere Leere vieler Figuren zeigt sich an den überwiegend dunklen Farben, die das Buch bestimmen: Schwarz ist die Nacht, sind Steine, ist verkohltes Holz. Auch ein Schrei kann schwarz sein.
Doch immer wieder schimmern auch lichte Farben durch: das Blau des Windes etwa. Oder das Rot von Ziegelsteinen. Oder von Tomaten in einer Hecke.
Farbtupfer setzt Anna Stern zudem mit gelegentlichen satirischen Einlagen. So will einmal eine Figur den Dichtestress in Schwimmbädern mit bürokratischen Mitteln beseitigen – mit einem «Schwimmrechtsausweis».
Klar: «blau der wind, schwarz die nacht.» ist eine bisweilen sperrige und verwirrende Lektüre. Doch wer sich auf das virtuose Werk einlässt, erlebt ein Stück Literatur mit grosser literarischer Kraft.