Eine Frau, zwei Welten: Anna Stern forscht als Umweltwissenschaftlerin im Labor – nebenher schreibt sie Bücher. Die 3sat-Bachmannpreisträgerin sieht in einem Bakterium auch künstlerisch-poetische Aspekte. Nicht nur deswegen wird man die junge Schriftstellerin auch in Zukunft im Labor antreffen.
SRF: Der 3sat-Preis beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb zeichnet Sie als Schriftstellerin aus. Hauptberuflich arbeiten Sie jedoch als Umweltwissenschaftlerin. Wird man Sie künftig weniger im Labor sehen?
Anna Stern: Ich hoffe nicht. Vielleicht zu anderen Tageszeiten, weil ich doch ein bisschen jonglieren muss.
Allerdings bin ich derzeit ETH-Doktorandin, ich habe mich für diesen Weg entschieden. Ich mache das genauso mit Leidenschaft, wie ich schreibe. Und ich möchte nicht, dass diese Leidenschaften Abstriche erfahren müssen.
Sie forschen rund um die Antibiotikaresistenz. Was reizt Sie an diesem Forschungsthema?
Mich faszinieren Bakterien als Lebewesen, die für uns von Auge nicht sichtbar sind und uns dennoch an unsere Grenzen bringen können.
Die Antibiotikaresistenz ist ein Thema, das die ganze Gesellschaft angehen muss, wenn wir unsere Lebensumstände, wie wir sie heute kennen, weiter erhalten möchten.
Das Laborumfeld bietet immer spannende Geschichten, die sich leicht in Literatur fassen liessen.
Das geht nicht nur die Medizin an, sondern beispielsweise auch die Umweltwissenschaft, die Agrarwissenschaft und die Soziologie. Es geht um eine Zusammenarbeit. In der interdisziplinären Zusammenarbeit sind wir oft nicht sehr gut, weil jede Wissenschaft das eigene Feld für das Wichtigste hält. Ich bin gespannt, wie wir das in Angriff nehmen können.
Sie beschäftigen sich täglich mit Bakterien. Eine Arbeit, die für einen Laien nicht gerade abenteuerlich klingt.
Ein solches Bakterium trägt durchaus auch künstlerisch-poetische Aspekte in sich, sogar philosophische. Letzteres hat sicher damit zu tun, dass ein Bakterium, eine Infektion, dem Menschen aufzeigt, dass er eben noch nicht die Welt beherrscht.
Es gibt sehr viel kleinere Lebewesen, die uns in Schach halten und die wir respektieren müssen, um unser gewohntes Leben weiterführen zu können. Und ein Bakterium beinhaltet, wenn man es durch ein Mikroskop betrachtet, auch eine künstlerische Seite. Dazu bietet das Laborumfeld immer spannende Geschichten, die sich leicht in Literatur fassen liessen.
Welche denn?
Das Labor ist ein Umfeld, in dem sehr viel geschehen kann, indem sich Beziehungen abspielen. Obwohl es ein isolierter Ort ist, der strenge Sicherheitsvorkehrungen erfordert, tragen wir als Forscher die Resultate ja schliesslich nach aussen, sind nicht hermetisch im Labor eingeschlossen. Wir diskutieren, kooperieren und konkurrenzieren. Diese Interaktionen interessieren mich beim Schreiben.
Sie bewegen sich in zwei Welten: Die eine ist voller Poesie – die andere verlangt Exaktheit und ein penibles Vorgehen. Wie bringen Sie das zusammen?
Ich glaube, die Welten sind gar nicht so verschieden. Beide brauchen Kreativität. In beiden Welten ist es wichtig, dass ich vernetzt, unabhängig und interdisziplinär denken kann.
Natürlich bleibe ich auch beim Schreiben in der Welt der Realität.
Wenn ich schreibe, nehme ich Gerüche und Töne wahr. Im Labor werde ich vor allem mit intellektuellen Herausforderungen konfrontiert, die ich zu neuen Ansätzen oder Experimenten verbinden muss. Beim Schreiben hingegen verwebe ich Gefühle und Beobachtungen zu neuen Geschichten.
Auf Ihrer Homepage wird man mit folgendem Spruch begrüsst: «Geh nicht nach Hause, geh nicht zurück, dreh Dich im Kreis und verlier Dich im Glück». Ist das der Zustand, den es braucht, um in die Welt des Schreibens zu versinken?
Definitiv. Natürlich bleibe ich auch beim Schreiben in der Welt der Realität. Ich schreibe ja keine Science-Fiction-Romane oder Zaubergeschichten. Trotzdem ist es eine andere Welt, in der vieles möglich ist. Sie bietet mir die Gelegenheit, Dinge, die ich erlebe, erfahre und nicht verstehe, zu verarbeiten.
Ihre Texte sind alle bildstark. Sie haben ein gutes Gespür für Ihre Figuren. Wie finden die Geschichten zu Ihnen?
Sehr stark durch Beobachtung und Erleben. Das ist etwas, was mir in den letzten Tagen in Klagenfurt sehr unangenehm war. Da war zu wenig Zeit, zu beobachten, zu spüren, zu erleben und zu fühlen, weil wir Autoren so sehr im Zentrum und im Scheinwerferlicht standen.
In Klagenfurt wehte ein steifer Wind. Ihre Text wurde teilweise hart kritisiert.
Für mich war die Jury-Diskussion sehr erhellend. Wenn ein Juror sagt, er findet keinen Grund, warum ein Text ihn interessieren soll, dann ist das in meinen Augen eine Aussage, die ein Freizeitleser durchaus äussern kann.
Von einem Juror erwarte ich jedoch, dass er sich mit einem Text beschäftigt – egal ob ihn dieser interessiert oder nicht. Alles andere ist für mich eine Form von Arbeitsverweigerung.
Wenn man Ihr Büro betritt, dann sieht man dort nicht nur Wissenschaftsbücher und Reagenzgläser. Man findet auch Bilder von David Bowie und Leonhard Cohen. Was fasziniert Sie an diesen Künstlern?
Bei David Bowie ist es ganz stark die Wandelbarkeit, die mich fasziniert. Er hat sich nicht auf einen Charakter festschreiben lassen. Die Toleranz, die er für sich einforderte, hat er auch nach aussen gelebt.
Bei Leonhard Cohen ist es die Hingabe an die Musik, die Poesie, aber auch die Sprache, die ihn im Zusammenhang mit der Musik dazu bewegt hat, nicht einfach nur Unterhaltung zu bieten. Seine Texte bieten eine Menge Ansätze zum Nachdenken.
Die Fragen stellte Andrea Meier.