«Wir haben übrigens denselben Vater.» Diese lapidare Bemerkung fällt ganz zu Beginn des neuen Romans «Das Vorkommnis» der deutschen Autorin Julia Schoch. Eine unbekannte Frau äussert sie gegenüber der Hauptfigur, einer Schriftstellerin mittleren Alters. Dieser eine Satz reicht aus, um ihr Leben völlig aus den Fugen geraten zu lassen.
Denn sein Gehalt ist für die Figur nur schwer verkraftbar. Er stellt das Bild der eigenen Herkunft, der Eltern, ja der ganzen Familie, in der sie aufgewachsen ist, grundlegend infrage: Es gab ein weiteres Kind, das man ihr verschwiegen hat. Die Eltern waren nicht so, wie immer angenommen. Gibt es weitere ungelüftete Familiengeheimnisse?
Das Gefühl, belogen worden zu sein
Bald breitet sich in der Seele der Figur ein nagender Zweifel an allem und allen aus und ergreift von ihr Besitz. Die Angst quält sie über Monate und Jahre.
«Die Wahrheit lässt alles andere schlagartig wie eine Lüge erscheinen», heisst es an einer Stelle des Romans. In seiner kristallklaren Sprache ist er typisch für den Roman. Schoch schreibt in einem Stil, der uns nicht entrinnen lässt.
«Wir alle leben mit in einer Erzählung von uns selbst, mit der wir aufgewachsen sind, und die uns ein Leben lang Halt gibt», sagt Julia Schoch. Wenn diese Erzählung plötzlich nicht mehr stimme, gerate die Identität ins Rutschen: «Eine Erzählung, an die wir glauben können, ist unabdingbar. Sie macht uns aus – viel mehr als alles Materielle, mit dem wir uns umgeben.»
Chronologie einer Verunsicherung
Der Roman ist aus der Ich-Perspektive erzählt und mit grossem zeitlichen Abstand zum «Vorkommnis». Er konnte erst geschrieben werden, als die Autorinnenfigur die Sprache wieder gefunden hatte, die sie nach dem traumatisierenden Geschehnis verloren hatte.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.
In gut 70 kurzen Kapiteln schildert die Ich-Erzählerin die langen Jahre des inneren Leidens. Sie wählt dafür die Form des inneren Monologs. Die kurzen, nicht chronologisch erzählten Episoden machen die psychische Verunsicherung sichtbar.
Gefangen in ambivalenten Gefühlen
So beginnt die erschütterte Frau etwa plötzlich an der Treue ihres Ehemanns zu zweifeln. Gleichzeitig schämt sie sich für ihr krankhaftes Misstrauen. Auch die eigenen Kinder erscheinen ihr auf einmal fremd. Danach ergeht sie sich dafür in Selbstvorwürfen.
Da nützt es wenig, dass die Figur irgendwann die Geschichte der tabuisierten Halbschwester herausfindet. Dass diese die Frucht einer Affäre des gemeinsamen Vaters ist, bevor dieser die Mutter der Ich-Erzählerin heiratete. Dass die Geliebte das Kind nach der Geburt zur Adoption freigab. Dass der Vater fortan immer wieder Alimente an die Pflegeeltern der tabuisierten Tochter bezahlte.
Auch ein kurzer Briefwechsel zwischen Erzählerin und Halbschwester im Nachgang des Vorkommnisses bringt keine Linderung. Erst nach Jahren kommt es zu einem zweiten Treffen der Halbschwestern. Bei dieser Gelegenheit spürt die Erzählerin, dass damit «etwas abgeschlossen war für mich». Warum genau, bleibt offen.
Literatur aus eigener Erfahrung
Die mehrfach preisgekrönte Julia Schoch bedient sich für «Das Vorkommnis» ihrer eigenen Biografie. Das autofiktionale Schreiben gehört zu den Markenzeichen der Autorin. «Die Geschichte der Autorin im Roman ist auch meine Geschichte», räumt sie unumwunden ein.
Allerdings ist «Das Vorkommnis» weit mehr als eine Dokumentation. Schochs eigene Erfahrung ist nach allen Regeln der Kunst literarisch gestaltet und entwickelt eine wundervolle Poesie. Ihr ist es zuzuschreiben, dass der melancholische Grundton des Romans nicht in Bitterkeit absinkt. Und dass das Buch trotz allem eine wohltuende Heiterkeit ausstrahlt.
«Das Vorkommnis» ist nicht nur ein Buch über die Bodenlosigkeit, die uns mitten im Leben heimsuchen kann, sondern auch eine Hommage an die heilende Kraft der Literatur. Denn die gestaltete Sprache kann im Chaos der Gefühle Ordnung vermitteln und den Weg zurück ins Leben eben. Selbst nach einem «Vorkommnis» samt anschliessender seelischer Höllenfahrt.