Am Samstag ist Peter Bichsel gestorben, kurz vor seinem 90. Geburtstag. Er war ein Schweizer Schriftsteller von Weltformat und ein verehrter und geliebter Kollege auch jüngerer Autorinnen und Autoren. Julia Weber, Usama Al Shamani, Nora Gomringer und Lukas Bärfuss schicken ihm einen letzten Gruss.
Lieber Peter,
Ich erinnere mich, wie ich Ruth Schweikert am Bieler Literaturinstitut fragte, ob sie mir deine Mailadresse gibt. Sie sah mich an, dieser Blick, als müsste sie gar nicht fragen, was ich damit vorhabe, als wüsste sie es, alles, das Wichtige und das Unwichtige oder andere Wichtige auch.
Ich erinnere mich, wie sie mir sagte, wenn du willst, dass er liest, dann biete ihm eine Flasche Rotwein an. Und ich sagte, rauchen kann er auch. Ja, dann kommt er sowieso, sagte Ruth. Ich erinnere mich, wie ich dir schrieb.
Lieber Peter, schrieb ich, wir haben in Biel ein schönes Atelier, es hat grosse Fenster, und im Winter ist es sehr kalt. Willst du bei uns lesen? Wir können dir eine Flasche Rotwein auf den Tisch stellen und einen grossen Aschenbecher. Liebe Grüsse Julia.
Liebe Julia, hast du sofort zurückgeschrieben, ich komme sehr gerne. Danke für die Einladung. Beste Grüsse Peter. Und dann holte ich dich ab. Ich erinnere mich, dass ich rote Turnschuhe trug und auf der Steinbank vor dem Bieler Bahnhof stand. Und ich erinnere mich an eine Freude, die grösser war als die Nervosität.
Als du kamst, mochte ich dich sofort, wegen deiner Art zu gehen und auch der Weste, natürlich, und dem füchsischen Blick, wie du mich sofort erkannt hast, obschon ich nie gesagt hatte, dass ich rote Turnschuhe tragen würde, auf einer Steinbank stehend und winkend.
Hallo Julia, sagtest du, und dass du vor einer Woche auch schon hier gestanden hättest, aber ich sei nicht hier gewesen, du hättest lange auf mich gewartet und dann seist du wieder gegangen, zuhause hättest du gemerkt, dass du dich im Datum geirrt hättest und jetzt seist du aber froh, mich zu sehen.
Ich erinnere mich, dass ich auch froh war. Ich sagte, ich bin auch sehr froh, dass du da bist, Peter. Und ich erinnere mich an einen Abend, mit so viel Rauch im Raum, dass man dich kaum noch gesehen hat, und an deine Geschichten aus Sibirien, die du aus den Büchern gehoben hast, und es war kalt im Atelier, aber es kamen so viele Menschen, dass es immer wärmer wurde, sie standen dicht beieinander, um dir zuzuhören. Danke für diese Erinnerungen, lieber Peter.
Heute ist es kalt.
Lieber Peter Bichsel
Ich möchte Ihnen für die Bedeutung danken, die Ihre Werke für mich persönlich haben.
Meine erste Begegnung mit Ihnen war die mit Ihrer Geschichte «Ein Tisch ist ein Tisch» im Jahr 2004. Ich war ein Asylbewerber und lebte in einer Baracke nahe der Stadt Baden. Dort begann ich, Deutsch zu lernen. Mit einem Wörterbuch las ich Ihre Geschichte von dem alten Mann, dessen Leben in grauen Tönen verlief.
Ich hatte das Gefühl, dass der Mann mich kenne, meinen inneren Dialogen zuhöre. Er wurde für mich eine Verbindung zur neuen Welt, in der ich plötzlich war. Ich begann nun auch, Wörter zu vertauschen, Wörter, die mir Angst machten:
Flucht wurde zum Wald.
Asylentscheid zum Ausflug.
Arbeitssuche zum Heimweg.
Chef des Heims zum Wetter.
Ich sagte mir: Ich bin auf dem Heimweg. Ich warte auf einen Ausflug. Ich lerne die Sprache nach dem Wald. Es stürmt. Es war ein heimliches Spiel, eine leise Art, meine neue Welt zu begreifen, ihr eine Form zu geben, die weniger bedrohlich war.
Ihr alter Mann erfand seine Sprache nicht aus Laune, sondern aus einem inneren Drang nach Freiheit. Auch ich versuchte damit einen Raum zu schaffen, in dem die Enge der Baracke und die Ohnmacht nachliessen.
Und anders als er fand ich darin nicht nur Trost, sondern auch eine Erkenntnis: Einsamkeit und Fremdsein ist auch eine Chance, die Welt aus neuer Perspektive zu sehen.
Die Vielfalt der Bedeutungen und die Kraft der Sprache bleiben uns als Ihr Geschenk.
Lieber Peter Bichsel
Auf einer Bank in Solothurn boten Sie mir einmal das Du an, und es war eine Freude und Ehre, das Du an mich zu nehmen und wie eine schöne Perle um den Hals zu tragen. Dann rutschten Kilometer, Monate, Jahre dazwischen und natürlich meine schüchterne Verehrung, und so werde ich heute zaghafter sein und ein Sie sprechen, aber ein Du fühlen.
Wer will sich nicht auf Du mit Ihnen fühlen, ist das Du doch genau das Gefühl, das Ihre Texte auslösen. Man fühlt sich gemeint. Der Mann in der Geschichte «Ein Tisch ist ein Tisch» ist jeder Mensch, der die Einsamkeit kennengelernt und versucht hat, gegen sie vorzugehen. Mit Methode und Verstand und vergeblich.
Sie erzählten mir, dass mein Vater Ihr erster Verleger gewesen sei und Sie ihn, aber vor allem die Konkrete Poesie verehrten, und das führte mich in die Jugend meines Vaters, von der ich allzu wenig weiss.
Ich bedanke mich für unzählige Erzählungen, die mich zur Autorin haben werden lassen, Freiheiten in der Form und Sprache, die meine Sprache befreit haben, und bedanke mich für immer neue Entdeckungen, wenn ich Sie wieder und wieder lese.
Ihr Interview zum altersgeschuldeten Rückzug aus der Literaturlandschaft hat mich schlussendlich davon überzeugt, dass Sie der authentischste, besonnenste Autor sind, den ich kenne. Die, die sich selbst nie als Beispiel sehen, haben das Schicksal eines zu werden.
Das hat sicher schon jemand so oder ähnlich gesagt. Leben Sie hoch, Leben Sie hoch, dreimal! Mindestens und himmlisch nun! – und ich lehn' eine Leiter an mein hohes Haus an, und versuche über den Dachfirst hinweg nach Solothurn zu spähen. Sehen Sie? Ich winke wie wild!
Mensch, Bichsel,
nach Solothurn kam ich,
im Gepäck eine Geschichte,
machte mir in die Hose,
der Betrieb, die Kritik, die Verlage
alle da, niemand vollständig freundlich.
Und du vor dem Kreuz,
mittendrin und nicht dabei,
mit deinem Eigensinn,
der ersten republikanischen Tugend.
Eine Gemeinschaft der Sonderfälle,
und ich war aufgenommen,
zugehörig, vereinslos, nicht als Dichter,
übers Schreiben gibt es nichts zu sagen.
Ein Leser, meine Güte, ein rarer,
und dein Snobismus
unter den wenigen zu sein
die das vergnügte Schulmeisterlein kennen und
den zweiten Paragrafen der zweiten Auflage
der Vorschule der Ästhetik
und die Nase rümpfen
wenn alle Robert Walser mögen.
Eine Elite, verarmter Landadel,
hierzulande ohne Geltung,
ausser am Jurasüdfuss, ein Ambassador
des Universellen, der Gerechtigkeit und der Liebe
bei der Darstellung der Verhältnisse
und der Gedanken, die Sorgfalt
gehört den Melancholikern,
zerbrechlich heisst die Fantasie.
Und dein Modernismus und deine Weltläufigkeit
und deine Unfähigkeit
Flachsamen zu dreschen
und dein Eigensinn
und deine Republik
aua, du fehlst.