Ein Häuschen mit drei Zimmern in Männedorf: Hier leben Adolf Muschg und seine dritte Ehefrau, die Japanerin Atsuko Muschg-Kanto. Beide bei guter Gesundheit. Das gemütliche Zuhause ist der Ort, an dem Adolf Muschg nachdenkt, schreibt und mit seiner Ehefrau intime Momente der Zweisamkeit verbringt, wie er sie in seiner neuen Erzählung «Nicht mein Leben» schildert.
Das Buch setzt damit ein, dass das Ehepaar auf einem Friedhof den Platz aussucht, wo dereinst das Grab sein soll, in dem sie beide liegen werden – um sich, wie Muschg schmunzelt, «über den Tod hinaus Gesellschaft zu leisten».
Autofiktionales Werk
Im Zentrum des Buchs steht die Figur eines älteren Lehrers. Doch es ist Muschg selbst, von dem er erzählt. Der mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Altmeister der Schweizer Literatur hält Rückschau auf sein Leben.
Eindringlich erzählt er von seiner Verlorenheit, als 1948 sein Vater starb und die Mutter mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Er kam als damals 13-Jähriger in ein streng reformiertes Internat im Bündnerland mit rigiden dogmatischen Prinzipien.
Erweckungserlebnis
Zu atmen vermochte er dort erst, nachdem an der Schule ein älterer und wenig angepasster Mitschüler ein Stück des Österreichers Franz Grillparzer inszenierte. Es verhandelte die Frage, wie Menschen lügen und sich verstellen, um im Leben zu bestehen.
Ich bin als Schwächling Offizier und Professor geworden.
Diese Aufführung, heisst es in der Erzählung, hat Muschg gezeigt, dass es ein «Heil ausserhalb der Kirche» geben müsse. Und dass es darum gehe, dieses «Heil» zu suchen, auch wenn «man oft nicht weiss, wie».
Diese Erkenntnis habe ihn innerlich befreit, erinnert sich Muschg im Gespräch. Mehr und mehr habe er gelernt, Ambivalenzen als Teil des Menschseins anzuerkennen und darin die Chance zu sehen, eigene Wege zu gehen.
Bekenntnisse des Betagten
In jungen Jahren, sagt Muschg, habe er indessen lange «versucht, der Mutter zu gefallen». Anstatt ihr einen abenteuerlicheren Lebensweg zuzumuten, habe er sich in einen «christlichen Artigkeitskerker» begeben und sei, um die Mutter glücklich zu machen, «als Schwächling sogar Offizier und Professor geworden».
Uns trennen bis heute Welten, aber deswegen muss ich Blocher nicht hassen.
«Menschen sind nicht nur zweiseitig, sondern mehrdeutig», sagt Muschg. In seiner Erzählung illustriert er diese Feststellung etwa an seinem langen Engagement für die europäische Idee. In Europa hätten sich fürchterlichste Verbrechen abgespielt, sagt Muschg. Dennoch hätten sich die Europäer mit der Einigung viel abverlangt, auch wenn sie unvollkommen geblieben sei: «Mit diesem Widerspruch muss ich leben können – um weiter für Einigkeit einzustehen».
Oder sein erbitterter Kontrahent Christoph Blocher: Nach heftigen Auseinandersetzungen in den 1990er-Jahren findet der Linksintellektuelle für Blocher im Buch auch anerkennende Worte. Sie beide würden bis heute Welten trennen, sagt Muschg, «aber deswegen muss ich Blocher nicht hassen».
«Nicht mein Leben» ist ein überaus vielschichtiges und berührendes Werk. Und es ist voll von Lebensklugheit. Es gelingt Adolf Muschg, seine persönlichen Erfahrungen auf eine allgemeinmenschliche Ebene zu heben. Dies auch, indem er seine Lebensgeschichte in Verbindung mit der griechischen Sagenfigur Odysseus bringt.
Odysseus’ Schicksal war es, über Jahre auf den Meeren herumzuirren. Aber er verstand das Irren als Teil seines Loses. Und er gab die Suche nach der «Heil» verheissenden Heimat nicht auf.