Der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón ist im Alter von 55 Jahren gestorben. Sein Buch «Der Schatten des Windes» ist seit Cervantes' «Don Quijote» der meistverkaufte spanische Roman aller Zeiten.
Literaturredaktor Michael Luisier hat Zafón vor drei Jahren zum Interview getroffen. Er erinnert sich an einen talentierten Storyteller und Verehrer von Shakespeare.
SRF: Wer war Carlos Ruiz Zafón für Sie?
Er war vor allem ein Storyteller. Das ist sein Ursprung und sein eigentlicher Beruf. Er war zuerst in der Werbung tätig und dann in Los Angeles beim Film, wo er Drehbücher schrieb. Und zwar mit einigem Erfolg.
Dieses Wissen hat er in seine eigentliche literarische Arbeit übernommen. Er wusste einfach, wie man Geschichten erzählt, wie man Plots konstruiert. Und wie man Spannungsbögen aufbaut, die über vier Bände und 3000 Seiten reichen, wie das in der Barcelona-Reihe der Fall ist.
Ohne Kitsch und Klischees verkauft man keine 15 Millionen Exemplare.
Und er wusste, wo die Wurzeln all dessen liegen. Das kam bei unserer Begegnung in London zum Ausdruck.
Wo denn?
In London, bei William Shakespeare. An ihm müsse man sich messen, wenn man Storyteller sein will, sagte Zafón.
Aber Sie schätzen Carlos Ruiz Zafón weniger wegen der Plots, sondern vor allem wegen der Atmosphäre in seinen Büchern.
Ich bin nicht so ein Krimi-Leser und schon gar kein Thriller-Fan. Aber wo mich Zafón gefangengenommen hat, ist im Atmosphärischen.
Das Barcelona zum Beispiel, das er beschreibt, ist fantastisch. Obwohl es dieses Barcelona gar nicht gibt – es ist die Konstruktion eines hochbegabten Storytellers.
Diese morbide Stimmung – die Gassen, geheimen Orte, das Ursprüngliche, der Charme des 19. Jahrhunderts, die Kneipen und Spelunken, die Verbrecher und Huren – all das hat eine sehr feine Patina, die einen in diese Welt mitnimmt und gefangen hält.
Das beinhaltet aber auch eine Menge Kitsch und Klischees.
Sicher. Ohne Kitsch und Klischees verkauft man keine 15 Millionen Exemplare.
Aber der Kerngedanke dieser Bücher, der Friedhof der vergessenen Bücher, wo alles anfängt und alles aufhört, der ist stark. Ein geheimer Ort, eine Art Kathedrale voller Bücher, die darauf warten, entdeckt zu werden, damit das Wissen zurück in die Welt kommt: Das ist bestechend und hat Millionen Menschen zum Lesen verführt, die sonst nicht lesen.
Was ist es, das die Welt des Carlos Ruiz Zafón ausmacht?
Es sind die Abgründe. Die Annahme, dass es unter dem bekannten noch ein anderes Barcelona gibt. Das der Bücher, des Wissens und der geheimen Geschichten.
Es ist das Motiv des Labyrinths, das immer wieder vorkommt. Dass man in Barcelona verloren gehen kann und an Orte gerät, die man nie mehr wiederfindet.
Wir verlieren einen Autor, der ganz nah an den Lesern war.
Wichtig ist auch, dass sich seine Romane alle um den spanischen Bürgerkrieg drehen, der in Barcelona ganz besonders grausam gewütet hat, und der noch lange präsent gewesen ist in Spanien.
So ist das auch in Zafóns Büchern: bei ihm endet der Krieg erst 1992 mit den Olympischen Spielen, als in Spanien definitiv etwas Neues beginnt.
Nun ist Carlos Ruiz Zafón gestorben. Wen verlieren wir?
Wir verlieren einen Autor, der ganz nah an den Lesern war. Der es sich aber nicht nehmen liess, ganz viel Wissen und literarische Tradition einfliessen zulassen. Da gehört beispielsweise das Werk Shakespeares dazu, auf das sich Zafón bezog und das so einmal mehr unter die Leute kommen konnte.
Das Gespräch führte Irene Grüter.