Kerstin hat es nicht einfach. Ihre Mutter hat sie verlassen, um sich ganz dem Aufbau des Sozialismus in der DDR zu widmen. Deshalb wächst Kerstin bei ihrer Grossmutter auf und schwärmt von der schönen Mutter ihrer besten Freundin Effi. Auf diese ist allerdings wenig Verlass.
Durch Kerstins grosse, immer etwas traurige Augen beschwört Anke Feuchtenberger Bilder der DDR ihrer eigenen Kindheit und Jugend: den bedrückenden Alltag, die Kriegstraumata der Elterngeneration, die russische Besetzung, die Verlockungen des Westens, Alkohol, sozialistische Solidarität, die Heucheleien des Systems, das Erwachen der Sexualität und schliesslich den Untergang ihrer Welt.
Frei von Konventionen
Die 1963 in Ostdeutschland geborene Anke Feuchtenberger gehört dank ihrer ungewöhnlichen Bildergeschichten seit 30 Jahren zu den international einflussreichsten Comickünstlerinnen.
Ihre eigenständige Bildsprache und Erzählweise rühren daher, dass sie in der DDR ohne Comics aufgewachsen ist. So entwickelte sie einen Stil, der weitgehend frei ist von den Konventionen westlicher Comics.
Das war damals, kurz nach der Wende, neu und aufregend – und machte Anke Feuchtenberger für viele zu einem Vorbild.
Keine Ostalgie
Diese Eigenständigkeit prägt auch die 450 Seiten starke Graphic Novel «Genossin Kuckuck», an der Anke Feuchtenberger 13 Jahre lang gearbeitet hat.
Die DDR und ihre Aufarbeitung sind längst ein eigenes literarisches Genre, doch auch hier findet Feuchtenberger ihre eigene Stimme jenseits der Stereotype.
An einer konkreten, historischen Erklärung der DDR ist sie nicht interessiert, sondern setzt sich auf metaphorische Weise mit ihrer Geschichte auseinander. Sie beschwört eher Stimmungen als konkrete Geschehnisse. Eine lineare Handlung sucht man vergebens. «Genossin Kuckuck» ist episodisch erzählt, assoziativ.
Furchterregende Schnecken
Das Wesentliche vermittelt Anke Feuchtenberger über ihre Zeichnungen: Die Bilder sind gross, zwei Bilder teilen sich jeweils eine Seite. Es geht nicht um Dynamik und äusserliche Spannung – die Bildfolgen sind ruhig, reflektierend.
Feuchtenbergers illustriert die Episoden nicht, sondern deutet sie. Die Zeichnungen bringen das Verdrängte an die Oberfläche und machen die psychologischen Folgen des Erlebten spürbar: Die Menschen werden immer wieder als Tiere gezeichnet, furchterregend grosse Nacktschnecken legen Schleimspuren, Pilze wuchern und wachsen in den Himmel.
Die Grenze zwischen Realität, Imagination und Symbolik löst sich auf: Kerstins Erlebnisse lesen sich wie Albträume.
Organische Bilder
Dazu kommt ein organischer Strich, oft mit Bleistift und Kohle, der einerseits Raum braucht, um sich zu entfalten, und andererseits sehr geeignet ist für Metaphern, Metamorphosen und surreale Vertiefungen.
So vermittelt Anke Feuchtenberger auf eindringliche Weise die bedrückende Atmosphäre in der DDR, und wie sie sich auf Heranwachsende ausgewirkt hat.
Visuell überwältigend
«Genossin Kuckuck» ist keine leichte Kost. Die Graphic Novel ist visuell überwältigend, aber nicht immer einfach und angenehm, sondern fordernd. Viele Bezüge erschliessen sich erst bei einer zweiten Lektüre.
Indem Anke Feuchtenberger ihre Erfahrungen vor allem metaphorisch und atmosphärisch vermittelt, schafft sie eine universale und zeitlose Geschichte.