Spätestens seit 2008 und seinem Weltbestseller «Die Vermessung der Welt» ist Daniel Kehlmann auch Leuten bekannt, die eher selten Bücher lesen. Doch Kehlmann war lange kaum jemandem ein Begriff, bis dieser «Blitzschlag» – wie Kehlmann sein Buch rückblickend nennt – publiziert und in bisher 40 Sprache übersetzt wurde.
Längst ist Daniel Kehlmann ein so gestandener Autor, dass der berüchtigte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki über ihn einmal in der FAZ verlauten liess: «Daniel Kehlmann kann erzählen, und zwar vorzüglich, er ist intelligent, und zwar ausserordentlich, er hat Phantasie, und zwar eine ungewöhnliche.»
Kritisieren und karikieren
Doch der Schriftsteller ist nicht nur an historischen Themen interessiert: Rechtzeitig zur Fussball-Weltmeisterschaft in Russland hat sich Kehlmann in der «Zeit» für deren Boykott ausgesprochen. Zu ungeheuerlich seien die Bedingungen zur Austragung der WM und die korrupten Machenschaften der Fifa. Wäre da nur nicht sein fussballbegeisterter Sohn.
Eine heikle Forderung angesichts der momentan weit verbreiteten Fussball-Euphorie? Eine Gefahr für seine Popularität? Wohl kaum. Denn «als etablierter Schriftsteller kann man seinen Ruf kaum noch ruinieren», hofft Kehlmann mit den Worten des libanesischen Philosophen Nassim Taleb. Und selbst wenn: Es sei zentral, dass es Menschen gäbe, die den Finger auf heikle Dinge legten.
Damit verweist Kehlmann auch auf eine grosse Tradition von Philosophen wie etwa Sokrates, Erasmus von Rotterdam oder Friedrich Nietzsche, die ihre Zeit jeweils treffsicher kritisierten und karikierten.
Von Narren und Philosophen
«Der Philosoph war stets jemand, der sich im Spannungsfeld von Freiheit und festen Institutionen bewegt hat» erklärt sich Kehlmann. Ein Freigeist also, der oft genug zum Narr und durch spitze Feder und scharfe Zunge schnell auch zum Aussenseiter wurde.
Von ähnlicher Narrenfreiheit handelt denn auch sein neuester Roman «Tyll», der in der grausamen, ja, apokalyptischen Zeit des Dreissigjährigen Krieges spielt.
Berge von Kinderleichen
Der Konflikt, der im Jahre 1618 als Religionskrieg aufflammte und erst gegen Ende 1648 abflachte, ging als bestialische Zeit des Hungers und des Mordens in die europäische Geschichte ein. Auch in Kehlmanns Geschichte türmen sich Berge von Kinderleichen und die Menschen hungern, bis sie irr werden.
Ausgerechnet dorthin versetzt Kehlmann seine Hauptfigur: den spöttischen und unberechenbaren Gaukler Tyll Ulenspiegel, der den meisten über Erich Kästners Werk «Till Eulenspiegel» noch bekannt sein dürfte.
Über den eigenen Schatten springen
Was interessiert den Bestsellerautor ausgerechnet an dieser Zeit und an der Figur Eulenspiegels, die er um 300 Jahre verjüngt? «Wenn es etwas gibt, über das du keinesfalls schreiben möchtest» sagt Daniel Kehlmann, «dann ist es genau das, worüber du schreiben solltest.»
Diesen Tipp hat er von niemand geringerem als dem US-amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen erhalten – und prompt umgesetzt. Die Zeit des Dreissigjährigen Krieges war Kehlmann stets wie ein grosser Albtraum vorgekommen, mit dem er nichts zu tun haben wollte.
Trotzdem hat er sich ihr angenommen, und mit «Tyll» einen Roman verfasst, der zwar in der Vergangenheit spielt, aber die Gegenwart keineswegs ungetrübt lässt.
Hauptsache Humor
In Interviews betont Kehlmann die unheimliche Parallele zum Syrienkonflikt, der genauso ein Ineinander von religiösen und machtpolitischen Ansprüchen widerspiegelt und immense Flüchtlingsströme zur Folge hat, wie damals während dem Dreissigjährigen Krieg.
Und hier klingt womöglich wieder an, die subversive Kraft der Literatur. Denn Tyll als Narr repräsentiert für Kehlmann speziell das anarchische Moment des Humors.