Bernhard Schlink hat einmal in einem Interview gesagt, er selbst stecke in allen Gestalten, über die er schreibe. So gesehen ist auch sein neuer Roman «Das späte Leben» autobiografisch eingefärbt. Bernhard Schlink wird nächstes Jahr 80 Jahre alt. In seinem jüngsten Werk setzt er sich mit dieser Lebensrealität auseinander und erzählt die Geschichte eines Juristen im Ruhestand.
Martin, 76, ist emeritierter Professor für Rechtsgeschichte. Er ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt und erhält die Nachricht, dass er nur noch sechs Monate zu leben hat. Nur die ersten zwölf Wochen werden schmerztechnisch erträglich sein. Seine Frau, Mitte 40, reagiert gefasst. Sein sechsjähriger Sohn ahnt, dass etwas nicht stimmt.
Verbleibende Zeit nutzen
Der deutsche Bestsellerautor schreibt unaufgeregt, nüchtern und bescheiden über Sterben und Tod. Sein Protagonist Martin lebt nach der Krebsdiagnose intensiver. Er möchte nochmals stille Momente des Glücks mit seiner Frau erleben, beispielsweise die Geborgenheit in der Auto-Waschstrasse: wenn das Wasser auf die Windschutzscheibe prasselt und man für fünf Minuten abgeschirmt von der Welt ganz nahe beieinander ist.
Gleichzeitig ist Martin von der Krebsdiagnose überfordert. Wie soll er dem Tod begegnen? Was soll mit der verbleibenden Zeit tun?
Was hinterlassen?
Martin will einen Tod, der Frau und Sohn nicht traumatisiert. Beide sollen Abschied nehmen können. Selbsttötung ist für ihn ausgeschlossen. Martin will Zeit haben. Er streicht alle Termine und beantwortet keine Mail. Stattdessen schläft er viel, bringt den Sohn zur Schule, geht mit ihm wandern.
Doch was soll er seinem Sohn noch mitgeben? Mehrmals versucht er ihm einen Abschiedsbrief zu schreiben. Doch was dabei herauskommt, könnte für den Sechsjährigen eine Altlast werden.
Martin realisiert, dass Zuwendung und Liebe wichtiger ist. Auch in den Wochen, die ihm noch bleiben, will er seinem Sohn David die Gewissheit vermitteln, dass er geliebt wird.
Dann beschliesst Martin, noch einmal das Meer zu sehen. Das Buch endet auch dort, mit Blick aufs Meer und die untergehende Sonne. Klingt kitschig. Dieser Wunsch nach dem Meer ist ein Topos, dem man häufig in der Literatur und im Film begegnet. Ein Allgemeinplatz, der aber durchaus seine Gültigkeit hat.
Mehr Flop als Top
Schlinks Roman liest sich in drei Teilen. Der erste Teil sticht durch psychologischen Tiefgang heraus. Schlink schildert einfühlsam, wie unterschiedlich seine Romanfiguren mit dem bevorstehenden Tod umgehen.
Der Sohn sieht den Vater «müdekrank». Er fragt ihn ohne Umschweife: «Wirst du sterben?» Der Vater federt ab: «Alle Menschen sterben. Die Grossen sterben vor den Kleinen. Ich bin gross und sterbe, wenn du noch klein bist.»
In zweiten Teil flacht die Geschichte ab. Martin beobachtet zufällig, dass seine junge Frau fremdgeht, obwohl sie «innige Nächte» miteinander erleben. Ihr Fremdgehen tut er als Midlife-Crisis ab. Er sieht darin keinen Grund zur Eifersucht oder Konfrontation. Das hält ihn aber nicht davon ab, selbst Privatdetektiv zu spielen und den Liebhaber ausfindig zu machen. Das befremdet und wirkt altbacken.
In Teil Drei kommt Martin dem Sterben immer näher. Er reist an die Ostsee, und die Geschichte plätschert friedlich ins Meer. Das stimmt versöhnlich. Doch im Grossen und Ganzen ist «Das späte Leben» ein durchzogenes Lese-Erlebnis.