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Thomas Mann – «Der Zauberberg»
Aus Sternstunde Kunst vom 20.10.2024.
Bild: Getty Images / ullstein bild Dtl. / Eduard Wasow abspielen. Laufzeit 52 Minuten 40 Sekunden.

«Der Zauberberg» wird 100 Die immer gleichen Abgründe: Was uns Thomas Mann heute noch lehrt

Vor hundert Jahren ist Thomas Manns Meisterwerk «Der Zauberberg» erschienen. Was kann uns das Buch, das in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg spielt, heute noch sagen? Literaturwissenschaftler Kai Sina meint: eine Menge.

Kai Sina

Literaturwissenschaftler

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Kai Sina (geb. 1981) ist Inhaber der Lichtenberg-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster und leitet die an den Lehrstuhl angeschlossene Thomas-Mann-Arbeitsstelle.


SRF: Sie sagen, man lerne in Thomas Manns «Zauberberg» mehr über unsere Gegenwart als in der gegenwärtigen Literatur. Warum?

Kai Sina: Weil uns vor Augen geführt wird, warum wir das moderne Leben so ungemein schätzen. Wir geniessen seine Vorzüge und profitieren von seinen Innovationen. Der Davoser Berghof versinnbildlicht das beispielhaft. Andererseits verdeutlicht Manns Werk, warum man an diesem modernen Leben verzweifeln kann und sich nach angeblich einfacheren, weniger fordernden Zeiten zurücksehnen mag. Kein Roman der Gegenwart zeigt mir diese tiefe und zugleich unaufhebbare Ambivalenz auf so eindringliche Weise.

Das müssen Sie genauer erklären.

Der Roman ist eine Summe der Zeit, in der er entstanden ist, zwischen 1912 und 1924: intellektuell, sozial, philosophisch und literarisch. Über tausend Seiten entdeckt man die Vielstimmigkeit der modernen Kultur und worin ihr ungemeiner Reiz besteht: unterschiedliche Sprechweisen und Sprachen, Denkschulen und Weltanschauungen, Positionen und Perspektiven.

Die Abgründe des 20. Jahrhunderts sind alles andere als überbrückt.

Hier wird eine offene Gesellschaft porträtiert und leidenschaftlich debattiert. Andererseits weist der Autor auf die Gefahren solcher Polyphonie hin, nämlich ihre Entgrenzung und die Möglichkeit des Abgleitens in Gereiztheit, Stumpfsinn und Irrationalität – am Ende sogar in Gewalt und Krieg. 

Was lernen wir daraus? 

Dass die Dynamiken der Gewalterzeugung, von denen der Roman erzählt, Anknüpfungspunkte zur Gegenwart haben und dass die Abgründe des 20. Jahrhunderts alles andere als überbrückt sind. Im Verlauf der Geschichte baut sich eine Spannung auf, in der man sich nur noch fragt, wer nun als Erster schiesst.

‹Der Zauberberg› ist das Zeugnis einer intellektuellen Arbeit des Autors an sich selbst.

Dabei lässt Thomas Mann die beiden Hauptkontrahenten Naphta und Settembrini, der Verfechter des autoritären Staates und der humanistische Radikalaufklärer, regelrecht aufeinander losgehen. Zunächst bloss, indem sie sich argumentativ und intellektuell aneinander reiben. Später aber, wo keine Klärung mehr in Sicht ist, wird die Lage kritisch: Es folgt ein Pistolenduell, die «Rückkehr zum Urstand der Natur». Dass Settembrini seinen Schuss am Ende in die Luft abgibt, während sich Naphta selbst erschiesst, schmälert die Dramatik kaum.

Wie stand Thomas Mann denn selbst zu diesen Dynamiken?

Nach dem Ersten Weltkrieg hat Mann eine grundlegende politische Selbstrevision vollzogen, mit seinem Bekenntnis zur Demokratie und Weimarer Republik im Jahr 1922 als Höhepunkt. Diesen Wandel bildet der Roman in sich ab.

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Davos damals – Zauberberg und Bohème-Hotspot
Aus Kulturplatz vom 13.12.2023.
abspielen. Laufzeit 27 Minuten 28 Sekunden.

Streckenweise lässt er seine Figuren Ansichten reformulieren, die er selbst um 1914 in seinen Kriegsschriften vertreten hat, um sie daraufhin erzählerisch zu entlarven. «Der Zauberberg» ist das Zeugnis einer intellektuellen Arbeit des Autors an sich selbst.   

Und warum verfrachtete Thomas Mann ein solches Epochenporträt in ein Luxussanatorium in Davos? 

Das hat zum einen biografische Gründe: Mann war zu Besuch bei seiner Frau Katia, die dort für ein halbes Jahr ihr Lungenleiden kurierte. Katia Mann berichtete ihm von den Gästen, die der sodann in Romanfiguren verwandelte. Zum anderen bot ihm das Sanatorium einen in sich abgeschlossenen Mikrokosmos, in dem er, vertreten durch seine Figuren, ganz Europa versammeln und miteinander ins Gespräch bringen konnte. Ein genialer Kniff. 

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

SRF 1, Sternstunde Kunst, 20.10.2024, 12:00 Uhr. ; 

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