Dass Fussball mehr ist als nur ein Spiel, ist nicht neu. Ganze Generationen von Literaten und Journalistinnen erzählen mittlerweile ihre kulturhistorischen Geschichten anhand des Fussballs. Nicht zuletzt auch der Schweizer Schriftsteller Pedro Lenz.
Dass aber jemand gleich ein ganzes Geschichtsbuch an einem Fussballspiel aufhängt, ist eher selten. Genau das tut der Sportjournalist und Buchautor Ronald Reng in seinem aktuellen Buch «1974 – eine deutsche Begegnung».
Das Buch nimmt seinen Anfang in der legendären Partie zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland vom 22. Juni 1974 anlässlich der Fussball-WM 1974 in Hamburg. Ausgehend von diesem einzigen Länderspiel zwischen den beiden deutschen Staaten erzählt Reng die deutsch-deutsche Geschichte der frühen 70er-Jahre.
Fussball im politischen Beben
Dabei geht es um die grossen Themen wie Willy Brandts Rücktritt als Folge eines Spionageangriffs der DDR, den Linksterrorismus der RAF oder den Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker. Es geht aber auch um weniger grosse Themen wie Frisuren und Autos, Günter Netzers Bar in Mönchengladbach oder die mafiösen Machenschaften einzelner Parteifunktionäre in der DDR, die sich auf Staatskosten ganze Profikaders für ihre jeweiligen Lieblingsclubs zusammenkauften.
Dramaturgische Bedingen für die Aufnahme in Rengs Geschichtsbuch ist die Nähe zum Spiel. Das beginnt beim unglücklichen Günter Netzer, der trotz Kultstatus an der ganzen WM nur am Schluss dieses einen verkorksten Spiels mittun durfte. Weiter geht es über die Mittelfeldspieler Overath und Hölzenbein, die von Netzers Glückslosigkeit profitierten und in die Mannschaft rutschten.
Vom Frankfurter Bernd Hölzenbein wiederum führt ein gerader Weg zu den beiden Literaten Eckhard Henscheid und Ror Wolf, die einander zum Thema «Hölzenbein in die Startelf» interviewten und dieses Interview an Feuilletonchef Marcel Reich-Ranicki vorbei in das Feuilleton der FAZ hievten. Und von dort aus geht’s weiter über die Mauer ins Theater nach Ostberlin, wo ein gewisser Ulrich Plenzdorf mit seinem Stück «Die neuen Leiden des jungen W.» ungeahnte Erfolge feierte.
Von Dissidenten und Terroristen
So zieht Reng immer weitere Kreise und erzählt vom Dissidenten Roland Jahn, der als Junge zusammen mit den DDR-Spielern Konrad Weise und Lothar Kubjuweits bei Carl Zeiss-Jena spielte. Vom Ex-Terroristen Klaus Jünschke, dem man in der Isolationshaft Attentatspläne auf das Spiel unterstellte.
Oder von der DKP-Aktivistin Doris Gercke, die an jenem 22. Juni 1974 ostdeutsche Schlachtenbummler durch Hamburg führte. Bis sie sich schliesslich von Partei und Ehemann trennte und zur erfolgreichen Erfinderin der Fernsehkrimi-Figur Bella Block wurde.
Ein einzigartiges Geschichtsbuch
Nur einer ist nicht dabei: Jürgen Sparwasser, der Ausnahmestürmer aus Magdeburg, der das entscheidende 1:0 für die DDR schoss. Als Ronald Reng den 76-Jährigen, dessen gesamte Karriere immer noch auf dieses eine Tor reduziert wird, anrief, hörte er nur ein lautstarkes «Hört denn das nie auf?» am Telefon. Jürgen Sparwasser steht für Interviews nicht mehr zur Verfügung.
Das ist schade, aber verständlich. Und auch nicht so schlimm. Rengs Buch ist auch ohne den Helden von Hamburg ein einzigartiges Geschichtsbuch.