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«Die Rückseite des Lebens» Yasmina Reza schreibt über die Momente, in denen das Leben kippt

Die französische Star-Dramatikerin hat jahrelang Strafprozessen besucht. Ihre Erzählungen zeigen die verborgenen Seiten menschlicher Existenz jenseits der Rechtsprechung.

Da ist zum Beispiel Sylvie W.  Sylvie W. hat ihre jüngere Tochter vergiftet. Sie hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und Insulin gespritzt. Genauso wie der älteren und sich selbst. Die Ältere ist trotzdem aufgewacht in der Nacht. Sie erkannte die Situation und hat die Mutter gerettet. Die Jüngere ist gestorben.

Nun steht Sylvie W. vor Gericht. Langsam rollt sich ihre ganze Geschichte auf. «Ein banales, bisschen beschissenes Leben», wie Yasmina Reza schreibt. Kindheit in einer abgeschotteten Familie mit zwei älteren Schwestern und einer depressiven Mutter. Einem Tyrannen als Vater, der sie geschlagen, gedemütigt, verstossen und alle gegeneinander aufgebracht hat. Niemand in der Familie kommt unbeschadet davon. Am wenigsten Sylvie, die «Lieblingstochter» des Vaters.

Frau mit dunklem Haar und Ohrring vor unscharfem Hintergrund.
Legende: Yasmina Reza wurde 1959 in Paris geboren. Ihr Theaterstück «Kunst» verschaffte ihr den Durchbruch zur weltweit meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerin. 2011 wurde ihr Theaterstück «Der Gott des Gemetzels» von Roman Polanski verfilmt. Keystone/dpa/Britta Pedersen

Wir ahnen, was das heisst. Und es wundert schon längst nicht mehr, dass es zu einer Bluttat kommt. Es wundert nur noch, dass der Vater nicht auch auf der Anklagebank sitzt.

Recht versus richtig

54 Erzählungen umfasst Yasmina Rezas neues Buch «Die Rückseite des Lebens». Meist schlimme Geschichten mit Beteiligten, deren Taten Reza nicht ausschliesslich nach juristischen Massstäben beurteilen mag. Zu komplex, zu verworren, zu vielschichtig sind die Hintergründe. Und irreversibel die Kippmomente im Leben, die den Taten vorausgegangen sind. Wie bei Sylvie W., die ihrem Vater nichts recht machen kann.

Wie bei Hubert, der sich in Wahnvorstellungen stürzt. Er, der «die gesamte Familie seiner Frau umgebracht hat – ein Riesengemetzel – und dann die Leichen zerstückelt, ausgenommen und die Reste in alle vier Winde seines düsteren Hofs verstreut».

Natürlich kann er nicht mehr sagen, warum er die Morde begangen hat. Er kann nur auf die Welt verweisen, in die er sich geflüchtet hat, und ausserhalb der es nichts gibt, «was das Schwindelerregende der Tat auf etwas Verstehbares herunterbrechen könnte». Die Richterin versteht das nicht. Sie besteht auf einem Vorsatz, habe «nicht gelernt, Kategorien hinter sich zu lassen», wie Yasmina Reza schreibt.

Präzise und tief

Ein weiteres «Urteil» Yasmina Rezas betrifft den ehemaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, der wegen Geschäften mit dem ehemaligen libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi vor Gericht steht. Sarkozys Schuld bezweifelt Reza genauso wie die Rechtmässigkeit des Verfahrens, das auf illegal abgehörten Telefonaten basiere.

Ihm selbst aber attestiert sie aufgrund seiner Konfliktunfähigkeit und seines Drangs, immer allen alles recht machen zu wollen, eine massive Angststörung.

15 Jahre schon besucht Yasmina Reza Strafprozesse. Entstanden sind kurze, dichte und brillante Erzählungen von grosser Tiefe und äusserster Präzision. Kombiniert werden sie in diesem Band mit Episoden aus Yasmina Rezas eigenem Leben. Begegnungen mit Freunden wie Luc Bondy oder Imre Kertesz. Oder einer Geschichte aus der Schulzeit, in der sie eine Lehrerin blossstellt, wofür sie sich ein Leben lang schämt.

Warum sie das tut, ist unklar. Vielleicht geht es um die Zeit und darum, dass die Dinge nicht rückgängig zu machen sind. Weder Mord noch das folgenschwere Blossstellen einer Lehrerin. Vielleicht spielt das aber auch gar keine Rolle. Denn eins ist sowieso klar: Yasmina Rezas einzigartige Qualität. Ihre Erzählungen sind genauso stark wie ihre Theaterstücke und Drehbücher.

Buchhinweis

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Yasmine Reza: «Die Rückseite des Lebens», sus dem Französischen von Claudia Hamm. Hanser, München 2025.

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