1. Lukas Bärfuss: Der Trost der Verzweifelten
«Friedrich Dürrenmatt hat in jedem seiner Werke die Welt untergehen lassen. Seine Arbeit war die Beschreibung des Untergangs. Erst wenn kein Stein auf dem anderen geblieben war, erst wenn jede Moral ihren zynischen Kern, jede Wahrheit ihre Lüge offenbart hatte, erst wenn die Unschuldigen ihrer Schuld überführt waren und jede Geschichte ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hatte, fand er den Trost der Verzweifelten: das Gelächter über die Sinnlosigkeit des Dasein.»
2. Andrea Gerster: Keine Schokolade von Fremden
«Ich wusste nicht, dass dies meine erste Begegnung mit Dürrenmatt war, damals in den späten 60ern, als ich noch ein gutes Stück Kindheit vor mir hatte. Mit meinem grossen Bruder sass ich vor dem Fernseher. Dann flimmerte dieser Schwarzweiss-Film mit dieser wahnsinnigen Musik, dem bösen Gert Fröbe und dem guten Heinz Rühmann. Von Fremden nehme ich bis heute keine Trüffelschokolade.»
3. Dana Grigorcea: Brecht ohne Zeigefinger
«In meiner Bukarester Schule hatten wir eine infantile Freude an Schriftstellerpaarungen. ‹Verne oder Dumas?›, ‹Goethe oder Schiller?›. Bei ‹Frisch oder Dürrenmatt?› weiss ich noch, dass ich der Frisch-Fraktion angehörte. Dürrenmatts subversiver Blick allerdings war mir näher als etwa der von Brecht, und Dürrenmatt kam im Unterschied zu Brecht ohne mahnenden Zeigefinger aus. So endete die Paarung ‹Dürrenmatt oder Brecht?› in meiner Dürrenmatt-Lektüre, die ich nach wie vor mit fast schon diebischer Freude betreibe. Übrigens: Dürrenmatts Leitsatz, dass eine Geschichte erst dann erzählt ist, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat, macht ihn, neben meinem Mann Perikles Monioudis, zum klassischen Griechen unter den Schweizer Schriftstellern.»
4. Jonas Lüscher: Der Meister des Slapstick
«Nichts hat mein Verständnis von Dürrenmatt so geprägt, wie jene Anekdote, wie er auf dem Casino-Platz in Bern unter den Augen eines Gärtners, der die Platanen stutze, auf dem Hin- und dem Rückweg zur und von der Philosophievorlesung, zweimal auf demselben Hundedreck ausrutschte, und wie er den Blick des Gärtners nie habe vergessen können. Und vermutlich hat auch keiner von Dürrenmatts Texten mein eigenes Schreiben mehr beeinflusst, als jene wenige Zeilen, in denen er eben diese Szene schildert; ausser vielleicht der erschossene Winter, wie er mit dem Gesicht voran in den Tournedos Rossini zu liegen kommt.»
5. Monique Schwitter: Die Brille und das Groteske
«Das erste war seine Brille. Die faszinierte mich schon als Kind. Ich fand sie so monströs scheusslich, dass ich sie für einen gewaltigen Witz des Trägers hielt – und den Blick einfach nicht von ihr wenden konnte. Das Monströse und das Witzige, das Tragische und das Groteske, das Politische und das Anarchische, das Moralische und das Spitzbübische: Niemand hat scheinbar Unverträgliches schöner, unerhörter und wahrhaftiger gepaart als Dürrenmatt.»
Inhalt
Literatur Dürrenmatt? Schreckliche Brille, schlimmstmögliche Wendungen!
Vor 25 Jahren verstarb Friedrich Dürrenmatt – zu seiner Zeit galt er als einer der bedeutendsten Dichter und Denker. Er prägte aber auch die nachrückende Generation. Fünf Schweizer Autorinnen und Autoren von heute erzählen von ihrer persönlichen Beziehung zum Altmeister der Groteske.