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Éric Vuillard «Ein ehrenhafter Abgang»
Aus Kultur-Aktualität vom 19.04.2023. Bild: AP Photo
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«Ein ehrenhafter Abgang» Folter im fernen Land: Als Frankreich sich an den Krieg klammerte

Geschichte trifft Geschichten. In seinem neuen Buch «Ein ehrenhafter Abgang» schildert der französische Schriftsteller Éric Vuillard Frankreichs Krieg in Indochina – und wie die Kolonialmacht versagte.

Wer Éric Vuillard liest, weiss: Geschichtsbücher erzählen nicht immer die volle Wahrheit. Sie sind eine Interpretation der Vergangenheit. Genau damit spielt Éric Vuillard, Träger des «Prix Goncourt», des höchsten französischen Literaturpreises.

Éric Vuillard steht vor einem Bücherregal.
Legende: Der Autor und Filmemacher Éric Vuillard kam zu einem historischen Eregnis auf die Welt – während der Revolte vom Mai 1968 in Lyon. EPA/Alejandro Garcia

Vuillard pflegt bekannte historische Ereignisse aufzugreifen. In früheren Büchern etwa die Französische Revolution oder den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland. Indem der Autor Fakten und Fiktion behutsam mischt, das historische Geschehen literarisch inszeniert, erscheint dieses in neuem Licht. 

30 Jahre Krieg – ohne Sieger 

So auch im aktuellen Buch «Ein ehrenhafter Abgang». Es spielt in Indochina, dem heutigen Vietnam. Dort führte die Kolonialmacht Frankreich von 1946 bis 1954 einen brutalen Krieg, den die USA nach dem Abzug der Franzosen fortsetzte. Bis 1975, zur Totalniederlage der Supermacht.

Der Linksintellektuelle Vuillard macht in seinem Buch vorab französische Wirtschaftsführer, Politiker und Militärs für das Grauen verantwortlich. Die Anklage beginnt ab der ersten Seite des Buchs, wo es um die Zustände auf den französischen Plantagen in Indochina geht: Die Kulis, vietnamesische Tagelöhner, erfahren Ausbeutung, Gewalt und Folter. 

Zivilisten
Legende: Eine Familie versucht sich vor den Kämpfen im damaligen Indochina in Sicherheit zu bringen. Keystone/AP Photo

Schonungslos plastisch erzählt das Buch von einem fiktiven Arbeiter in einem französischen Folterknast: «Der Mann liegt auf dem Rücken, … erschöpft, beide Füsse gefesselt, halb nackt … und versucht verzweifelt, seine Geschlechtsteile mit einem schmutzigen alten Lumpen zu bedecken.»

Wo Geschichte auf Geschichten trifft

Auf diese Szene folgen Ausschnitte aus einem damals populären pseudowissenschaftlichen Werk: «Ein Mann mit der Intelligenz eines durchschnittlichen Arbeiters» heisst es da, könne problemlos «dressiert» werden. «Seine unterlegene Mentalität» befähige ihn, «die Monotonie zu ertragen».

Durch die dichte Abfolge von fiktiver Szene und historischer Quelle offenbart sich der Rassismus der Kolonialmächte, der den Krieg in Indochina befeuerte. Das rasche Gegenschneiden von Fakt und Fiktion ist ein Kernelement von Éric Vuillards literarischem Stil. So ermöglicht er Leserinnen und Lesern, immer tiefer ins Geschehen einzutauchen.

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Etwa dort, wo der Autor von französischen Politikern erzählt, die sich in der Pariser Nationalversammlung wortgewaltig dagegen wehren, das sinnlose Töten endlich zu beenden. Frankreich müsse weiterkämpfen, um wenigstens einen «ehrenhaften Abgang» zu erreichen. 

Diese Literatur zeigt, was Krieg ist 

Oder als die Vietnamesen die Franzosen in der Schlacht von Dien Bien Phu 1954 schliesslich vernichtend schlagen, schildert der Erzähler den französischen Kommandeur vor Ort, der sich ob der Niederlage in Selbstmitleid ergeht.

Ein vietnamesischer Soldat schwenkt die Nationalflagge über dem eroberten Hauptquartier der französischen Armee.
Legende: Mit der Niederlage Frankreichs in Dien Bien Phu am 7. Mai 1954 endet auch die Besatzung der Franzosen in Indochina. KEYSTONE/AP Photo/Vietnam News Agency/STRINGER

In Tat und Wahrheit heisst es im Buch, sei es jedoch nicht er, der alles verloren habe: «Es waren die Hunderttausende von Kulis, die in den Bergwerken oder auf den Plantagen gearbeitet hatten, es war die vietnamesische Volksarmee, die fünfhunderttausend Männer verloren hatte.»

Eric Vuillards Art, über Historisches zu schreiben, ist engagiert und ergreift Partei. Damit macht sich der Autor angreifbar. Doch erschüttert uns sein Werk mehr als ein rein wissenschaftlicher Text. Durch ihre spezielle Machart weckt diese Literatur Empathie mit den Opfern – und zeigt, was Krieg ist.

Buchhinweis

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Éric Vuillard: «Ein ehrenhafter Abgang», übersetzt von Nicola Denis. Matthes & Seitz 2023.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 19.04.2023, 17:10 Uhr

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