Die erbarmungslosen Selektionen an der Rampe, die zynische Täuschung der Neuankömmlinge, während sie in die Gaskammern geführt werden, Massenerschiessungen, das Töten mittels Phenolspritzen mitten ins Herz, die sexuelle Ausbeutung von Häftlingen durch SS-Schergen – die Lektüre von «Interessengebiet» grenzt ans Unerträgliche.
Mit seiner gewohnt präzisen und schnörkellosen Sprache beschreibt der Brite Martin Amis das ganze Arsenal an enthemmter Grausamkeit und an letztlich unerklärbarer Entmenschlichung, die mit Auschwitz für immer verbunden bleiben wird.
In den Gehirnen der Täter
Amis schildert das Geschehen aus der Sicht der Täter. Dies ermöglicht Einblicke in deren kranke Gehirne. Die Nonchalance, mit der die Nazis ihr mörderisches Treiben kommentieren, lässt beim Lesen den Atem stocken.
Man führe lediglich Befehle aus, erklären die Schergen. Und sie berufen sich auf Nazi-Theorien, die vor Rassismus triefen, indem sie allen Ernstes behaupten, das historisch einmalige Vernichtungswerk diene einem höheren Zweck.
Alles schon einmal gehört
Über 400 Seiten lang dauert der kaum auszuhaltende Blick in den ekelhaft stinkenden Schlund des Bösen. Am Ende angelangt, legt man das Buch verstört aus der Hand, und man fragt sich: Was eigentlich will dieser Roman?
Klar: Literatur soll auch wehtun dürfen. Aber hat man all dies Grässliche nicht schon längst gelesen, etwa bei Hannah Arendt oder bei Primo Levi? Und wird dort das unfassbar Monströse, das bis heute mit Auschwitz verbunden ist, nicht wesentlich subtiler und mit grösserer analytischer Tiefenschärfe angegangen?
«Interessengebiet» hat ganz offensichtlich ein Originalitätsproblem. Zwar dient dem Roman eine Liebesgeschichte zwischen einem SS-Mann und der Frau des Lagerkommandanten als roter Faden. Aber diese Lovestory wirkt zu konstruiert, als dass sie den Roman lesenswert machen würde.
Ähnlich verhält es sich mit den satirischen Elementen, für die Amis bekannt ist, und die er auch in «Interessengebiet» zur Anwendung bringt. Das Satirische ist in diesem Roman aber nicht durchgezogen, blitzt lediglich situativ auf – und wirkt im Einzelfall geschmacklos. Etwa an jener Stelle, wo unter den Nazis Wehklagen ausbricht, weil einer der SS-Männer ums Leben gekommen ist: Er ist beim Erschiessen von Juden unglücklich in einen Elektrozaun gestolpert.
Wenig zu überzeugen vermag schliesslich, dass sich eine der SS-Hauptfiguren im Laufe des Romans zu einem Kritiker des Nazi-Regimes entwickelt. Die tieferen Beweggründe dieser Wendung hin zur Humanität erschliessen sich nur vage.
Der Holocaust als Romansujet
Martin Amis durfte im angelsächsischen Raum für seinen Roman viel Zustimmung erfahren. Umso grösser war das Aufsehen, als der Autor zunächst keinen Verleger für die deutsche Übersetzung des 2014 im englischen Original erschienen Romans fand.
Hanser, bei dem Amis nach seinem Weggang von Rowohlt und Fischer endlich heimisch zu werden schien, lehnte das Manuskript ab. Es sei literarisch ungenügend. Gleichzeitig weigerte sich der französische Verlag Gallimard, die französische Übersetzung des Werks herauszubringen.
Für den deutschsprachigen Raum ist nun der Zürcher Verlag Kein und Aber in die Bresche gesprungen. Die Lektüre des Romans ernüchtert. Zwar ist Martin Amis zu danken, dass er nach «Pfeil der Zeit» von 1993 den Holocaust ein zweites Mal aufgegriffen hat und damit dazu beiträgt, die Erinnerung an das Monströse wach zu halten. Allerdings stellt die historisch singuläre Nazi-Barbarei als Thema für einen Roman an einen Autor eben auch besondere Anforderungen. Und diesen wird Martin Amis nur sehr bedingt gerecht.