Die 62-jährige Oksana Sabuschko zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen aus der Ukraine. Bekannt ist sie unter anderem für ihren monumentalen historischen Roman «Das Museum der vergessenen Geheimnisse» von 2010. In ihrem aktuellen Essay «Die längste Buchtour» macht sie den Ukraine-Krieg zum Thema.
Der Text liest sich wie eine lange Wutrede: Eloquent und mit scharfer Zunge trägt die ukrainische Autorin auf knapp 170 Seiten ihren Zorn vor. Sowohl Russland als auch der Westen bekommen ihr Fett ab.
Der Westen hat versagt
Sabuschko prangert Russland für die von langer Hand geplante Perfidie seines Angriffskriegs an. Und den Westen, weil er lange nicht sehen wollte, dass sich Russland unter Putin in die Bahnen einer gefährlichen totalitären Diktatur zurückverwandelte: «Diese neue Orwellisierung Russlands wurde bis zum 24. Februar 2022 vom kollektiven Westen nicht als echte Bedrohung wahrgenommen.» Sowohl Intellektuelle, Philosophen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen als auch Priester hätten versagt.
Ihr «feines Näschen», den Braten zu riechen, sei ihnen verloren gegangen – trotz der Kriege in Tschetschenien und Georgien, trotz der Krim-Annexion und des Einmarsches im Donbas.
Der Westen sei dadurch zum Erfüllungsgehilfen eines Kriegs geworden, der weit über die Ukraine hinausreiche. «Ich nenne ihn den Dritten Weltkrieg», schreibt Sabuschko: «ein ununterbrochener, massiver und alles durchdringender Krieg, den der russische Staat konsequent gegen die zivilisierte Welt führt.»
Die längste Buchtour ihres Lebens
Erst der 24. Februar habe ein kollektives Erwachen aus einem Dornröschenschlaf bewirkt. Oksana Sabuschko schildert, wie jener Tag auch ihr Leben radikal veränderte. Sie wurde in Warschau vom Kriegsausbruch überrascht. Sie war auf einer Lesereise, konnte nicht mehr zurück und ist seither auf der längsten Buchtour ihres Lebens.
Die Autorin beschreibt Begegnungen mit westlichen Intellektuellen: Sie würden die Ukraine oft als kleines Russland wahrnehmen. Das ignoriere den langen Kampf der Ukraine um Eigenständigkeit.
Die Existenz der Ukraine sei «kein Geschenk des Schicksals», schreibt Sabuschko: Russland, das «Reich des Bösen», habe sich 150 Jahre lang bemüht, sich die Ukraine einzuverleiben. Dass man überhaupt existiere, sei «das Ergebnis unseres Sieges über unsere Mörder».
Zu wenig Differenzierung
Pauschale Bezeichnungen wie Russland als «Reich des Bösen» sind aufgrund des Geschehens in der Ukraine mehr als verständlich. Dennoch lassen sie Differenzierungen und unterschiedliche Perspektiven vermissen.
Also jene Zwischentöne, die gute Literatur ausmachen, und welche die Autorin in ihrer Fiktion meisterhaft beherrscht. Hier legt sie jedoch einen polemischen Ton an den Tag, der bisweilen schmerzt.
Das Wort als Waffe
Er passt zur streitbaren These, die Oksana Sabuschko im Frühling in der Tagespresse veröffentlichte: Die russische Literatur bis hin zu Dostojevskij und Tolstoj sei generell uneuropäisch, ja unmenschlich. Und damit mitverantwortlich für Menschheits-Verbrechen wie demjenigen von Butscha.
Oksana Sabuschkos Essay legt zwar an manchen Stellen den Finger zu Recht auf wunde Punkte. Weil der Text jedoch nur so strotzt vor Schwarz-Weiss-Malereien, ist er auch beunruhigend: Er zeigt, dass selbst gefeierte Autorinnen nicht davor gefeit sind, in Zeiten des Kriegs eine bedenkliche Schlagseite zu entwickeln.