«Schau, ist sie nicht wunderschön?» Usama Al Shahmani zeigt begeistert auf eine Föhre. Mit schlankem Stamm erhebt sie sich majestätisch aus den Sträuchern. «Föhren mag ich ganz besonders, wie sie so allein und erhaben dastehen.»
Natur als Ruhepol
Wir wandern durch einen Herbstwald ausserhalb von Frauenfeld. Dort lebt der 51-jährige Schriftsteller. Wandern zähle zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, erzählt er. In seiner Heimat Irak werde nicht gewandert. Es gebe für den Schweizer Nationalsport nicht einmal eine passende arabische Übersetzung.
Seit Usama Al Shahmani 2002 vor dem Saddam-Regime in die Schweiz flüchtete, lassen ihn Bäume nicht mehr los. Die Ruhe, die von ihnen ausgeht, ihre geheimnisvolle Kraft und auch ihre Symbolik sind in Al Shahmanis drei auf Deutsch erschienenen Romanen ein Topos, der zuverlässig wiederkehrt.
Wald als Trostspender
Auch im aktuellen Titel «Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt», in dem der Autor – autobiografisch grundiert – vom harten Los des irakischen Geflüchteten Dafer erzählt, der im Schweizer Exil seine Liebe zu den Wäldern entdeckt.
«Im Wald», schreibt Dafer, «zwischen den Bäumen atme ich frei. Die Bäume empfinden meinen Schmerz. Ich spüre meinen Körper, nähere mich mir selbst, meinen Gefühlen. Auf den Waldwegen lassen meine Schritte in mir einen dicken Stamm wachsen, der mir sagt, dass ich zu diesem Waldboden in diesem Land gehöre.»
Wandern als Wunderwaffe
Usama Al Shahmani und ich gehen auf einer Naturstrasse. Über uns das bunte Blätterdach. Dahinter der blaue Himmel. Was für Dafer gelte, gelte auch für ihn, sagt Usama Al Shahmani. Der Wald habe auch ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt, als er – von Diktatur und Flucht traumatisiert – in die Schweiz gelangt sei.
Als er ohne Beziehungsnetz und Freunde dagestanden und die fremde Sprache nicht beherrscht habe. «Das Wandern erlaubt mir damals wie heute, mich durch die Augen der Natur immer wieder neu zu sehen.»
In den ersten Jahren nach seiner Flucht habe es ihm geholfen, sich und seine Situation zu verstehen. Und zu erkennen, dass er Deutsch lernen musste. Er tat es. Mit Fleiss und Akribie. «Der Schlüssel zum Ankommen ist die Sprache», ist er überzeugt. Heute ist Usama Al Shahmani ein arrivierter Schweizer Autor.
Seine Romane, die er auf Deutsch schreibt, sind Bestseller. Er hat das Meisterstück fertiggebracht, sich als Autor in einer Sprache zu etablieren, die nicht seine Muttersprache ist.
Schweiz als neue Heimat
Wir stapfen über eine Lichtung. Die Blätter rascheln unter unseren Schritten. Der süsse Duft des Flüsschens Murg nebenan liegt in der Luft. «Indem ich Deutsch gelernt habe, ist die Bitterkeit auf der Zunge verschwunden». Usama Al Shahmani mag es, sich bildhaft auszudrücken. Nicht nur in seinen Romanen, auch beim Wandern.
«Ich sehe mich nicht als Exil-Autor aus dem Irak», sagt Usama al Shahmani, «sondern als Schweizer Autor mit irakischer Herkunft.» Diese Unterscheidung sei ihm wichtig. Er sei «angekommen».
«Manchmal habe er den Eindruck, dass man es hierzulande verlerne, einfach in die Natur zu gehen und die Stille auf sich wirken zu lassen. «Viele brauchen Gadgets, die sie sich umschnallen können», schmunzelt Usama Al Shahmani.
Wir kehren um und gehen stumm nebeneinanderher. An Bäumen vorbei. Ich lausche angestrengt. Ob ich sie sprechen höre?