«1984» ist immer noch ein Magnet: Als 2021 das Copyright abgelaufen war, wurde das Buch allein ins Deutsche acht Mal neu übersetzt. Nur schon wegen des berüchtigten «Newspeak» gibt es auch sprachlich einiges her. «Neusprech», die Ablösung der bisherigen Sprache, ist in der «1894»-Diktatur «Ozeanien» ein umfassendes Machtinstrument.
Todesstrafe auf Individualität
Längst haben «Newspeak»-Wörter wie «Thoughtcrime» Eingang in unseren Alltag gefunden. Im Fall von «Thoughtcrime» allerdings abgemildert: Denn im totalitären Staat, den George Orwell beschreibt, sind sämtliche individuellen Bedürfnisse «Gedankenverbrechen» und werden mit dem Tod bestraft.
Einer der Neuübersetzer, Frank Heibert, akzentuiert den perfiden Albtraum zusätzlich, indem er das Präteritum des Romans ins Präsens setzt:
«Es ist ein strahlendkalter Apriltag, und gerade schlägt’s dreizehn. Winston Smith schlüpft, das Kinn auf die Brust gedrückt, um dem fiesen Wind zu entgehen, rasch durch die Glastür in die Victory Mansions, aber nicht schnell genug, um den hereinwirbelnden körnigen Staub draussen zu halten.»
Unvermindert aktuell
So beginnt «1984». Sofort ist klar, dass der Protagonist Winston Smith die feindliche Aussenwelt nicht aussperren kann. Wohnung und Treppenhaus sind verwanzt und mit Propaganda beschallt.
Nach knapp einer Seite des Romans tauchen die ersten Plakate mit dem grimmigen Porträt des namenlosen Herrschers von Ozeanien auf: «Der grosse Bruder sieht dich.»
Auch wenn dieser berühmte Satz mittlerweile fast harmlos klingt – der Roman ist es nicht. In all den Jahren seit seiner Erstpublikation 1949 scheint er fortlaufend neu Realität zu werden – aktuell zum Beispiel im Überwachungspotential von Sprach- und Gesichtserkennung und weiteren KI-Anwendungen.
Sagen können, was andere nicht hören wollen
George Orwell (1903–1950) war bereits todkrank, als er seine Dystopie schrieb. Der Brite aus gutem Haus war einer der brillantesten Köpfe seiner Zeit.
Er schrieb gesellschaftskritische Romane und Essays, geisselte den Kolonialismus, dem er in Burma fünf Jahre lang selbst gedient hatte, berichtete über seine Zeit im spanischen Bürgerkrieg und über sein Leben unter Obdachlosen in London und Paris.
Orwell orientierte sich in «1984» am Terror von Hitler und Stalin. Selbst sah er sich als «demokratischen Sozialisten». Sein Sohn erinnert sich, dass der Vater nur einen Leitsatz hatte: «Freiheit ist das Recht, sagen zu können, was andere nicht hören wollen.»
«In dich rein kommen sie nicht.»
Winston Smith, der Protagonist in «1984», hat diese Freiheit immer weniger. Als unauffälliger Bürger Ozeaniens glaubt er lange, in den eigenen vier Wänden sicher zu sein. Aber dann gerät er ins Visier der Gehirnwäscher und Folterer.
Seine Freundin, die er heimlich hat, versucht, ihm Mut zu machen: auf sein Denken hätten die Überwacher keinen Zugriff: «In dich rein kommen sie nicht.» Dem ist nicht so. Smith wird völlig umgedreht.
Die Korrumpierung aller Gefühle und die schleichende Zerstörung der Wahrheit sind zwei Aspekte der Diktatur in «1984». Aufs Heute gemünzt: nichts ist mehr privat, es gibt nur noch Fake News, und dahinter lauert der nackte Terror. Mit Blick auf die Welt ist «1984» ein Buch, das nie aus der Mode kommt.