Dieses Jahr, sagte kürzlich die Chefin der russischen Nationalbank, werde Russlands Wirtschaft ein «negatives Wachstum» aufweisen. Tönt irgendwie gut, tönt nach Wachstum. Meint aber das Gegenteil: Die Wirtschaft schrumpft. Eigentlich ist es sogar so: Wegen des Coronavirus stürzt das Land in eine schwere Wirtschaftskrise.
Der Begriff «negatives Wachstum» ist ein sprachlicher Taschenspielertrick, und es ist nicht der einzige. Beamte und staatliche Medien hübschen in letzter Zeit die Realität systematisch mit Wörtern auf. So haben russische Feuerwehrleute immer weniger mit «Bränden», aber immer mehr mit «Rauchentwicklung» zu kämpfen.
Explosionen verpuffen
Auch die Zahl der «Explosionen» nimmt ab – etwa von Gasleitungen in Wohnhäusern. Dafür kommt es vermehrt zu «Verpuffungen». Statt «Überschwemmungen» gibt es «steigende Wasserstände». Tönt weniger bedrohlich, nass werden die Betroffenen trotzdem.
Liberale Moskauer Kreise nennen diese sprachlichen Akrobatik-Übungen «Neusprech» – in Anlehnung an George Orwells Roman 1984. Auch dort lässt der Staat die Sprache politisch umgestalten. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass die neuen Begriffe gezielt eingeführt wurden.
Das kritische Online-Magazin «Meduza» untersuchte etwa, wie oft die Begriffe «Gas-Verpuffung» respektive «Gasexplosion» in russischen Medien verwendet wurden. Das Ergebnis ist verdächtig: Im vergangenen Herbst nahm die Verwendung des milder tönenden Begriffs «Verpuffung» unvermittelt stark zu.
Umdeutung der Realität
«Meduza» zitierte mehrere anonyme Quellen aus dem Staatsapparat, die bestätigen: Diese Veränderungen der Sprache sind kein Zufall. Demnach gibt die Administration von Präsident Putin Anweisungen, wie und mit welchen Worten worüber berichtet werden soll. Es gehe darum, den Akzent auf positive Entwicklungen zu setzen, sagte eine dieser Quellen. Ein anderer Informant bestritt aber, dass es solche direkten Befehle aus dem Kreml an die Medien gebe.
Gut möglich auch, dass die sprachliche Schönfärberei eine Art vorauseilender Gehorsam ist. Es gehört zu den unseligen Traditionen in Russland, schlechte Nachrichten eher unter den Teppich zu kehren, als sie in der Hierarchie nach oben zu melden. Und auch das Volk soll sich stets in einer wohligen – wenn auch falschen – Sicherheit wiegen. Der autoritäre Staat vermittelt gerne den Eindruck, er habe alles im Griff.
Unwort «Corona»
Ein Mechanismus, der sich in diesen Wochen erneut beobachten lässt. Die Corona-Krise wird von Beamten und Staatsmedien systematisch sprachlich runtertemperiert. So werden etwa die doch recht weitreichenden Ausgehbeschränkungen nicht beim Namen genannt, sondern mit Begriffen wie «Selbstisolation» oder «arbeitsfreie Wochen» weichgezeichnet. Auffallend auch, dass vor allem aus den Provinzen viele «akute Lungenentzündungen» gemeldet werden. Ein Ausdruck, der Corona-Infektionen umschreibt, ohne «Corona-Infektion» zu sagen.
«Die Grosse und Mächtige» hat einst der Dichter Alexander Puschkin die russische Sprache genannt. Das russische Volk kennt natürlich seine Sprache – und lässt sich nicht so leicht von Neusprech-Kapriolen der Mächtigen in die Irre führen. Inzwischen gibt es im Internet – halb ernst gemeinte – Neusprech-Wörterbücher. Einer dieser Listen zufolge bedeutet der Neusprech-Satz: «Es gibt keinen Grund zur Panik» auf gut Russisch: «Es ist bereits zu spät für Panik.»