«Leg / das Herz / in die Lücke / Spring / ohne Netz / auf die nächste / Zeile» – Gedichte wie dieses, eine Art Anleitung zum Lesen, sind typisch für das Schaffen von Leta Semadeni. Ihre Lyrik und Prosa sind sprachlich dicht, metaphorisch aufgeladen und vertrauen dem sprachlichen Klang und der Sinnlichkeit.
Die 78-jährige Autorin lebt im Engadiner Dorf Lavin. Mit dem Veröffentlichen ihrer Werke hat sie sich viel Zeit gelassen: Ihr erstes Buch «Monolog per Anastasia/Monolog für Anastasia» mit Gedichten in Romanisch und Deutsch erscheint erst 2001.
Leta Semadeni ging damals bereits auf die 60 zu. Dass sie deswegen eine «spät berufene» Schriftstellerin sei, hört sie allerdings ungern. Schliesslich habe sie seit der Kindheit immer geschrieben.
Die literarische Lehrerin
Tatsächlich veröffentlichte die Engadinerin bereits ab den Siebzigern einzelne Gedichte und Kurzgeschichten in Zeitungen und Anthologien. Lange schrieb sie im Nebenberuf.
Bis sie 2005 ihre Arbeit als Lehrerin an den Nagel hängte. Von da an widmete sie sich ganz dem Schreiben. Ins breite Bewusstsein der Schweiz – und darüber hinaus – trat sie 2015, mit ihrem Romandebüt «Tamangur».
Darin erzählt sie in Prosa-Miniaturen über das Aufwachsen eines kleinen Mädchens an der Seite der Grossmutter in einem fiktiven Bergdorf. Die Schilderung ist – wie auch in ihrer Lyrik – reduziert. Vieles bleibt Andeutung und erschliesst sich erst aus dem Ungesagten.
2016 ehrte der Bund Leta Semadeni für dieses Werk mit einem der «Schweizer Literaturpreise», die das Bundesamt für Kultur (BAK) jedes Jahr an mehrere Autorinnen und Autoren aus allen Landesteilen für ein Einzelwerk vergibt.
Miniaturen ganz gross
Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Schriftstellerin den zweisprachigen Gedichtband «Eu sun bain eir sco Tü/ Ich bin doch auch ein Tier». Zudem brachte sie ihren zweiten Roman «Amur, grosser Fluss» heraus, eine Liebesgeschichte, erzählt in über hundert Miniaturen. Augenblicke, Episoden und Erinnerungsfetzen fügen sich darin zu einem Ganzen.
Beide Werke entwickeln eine grosse literarische Kraft. Realismus und Fantastik durchdringen einander. Die Texte entziehen sich dem eindeutigen Verstehen, lösen jedoch Ketten von Assoziationen aus. Allgemeinmenschliches wird sichtbar: Liebe, Vergänglichkeit, Erinnerung, Schmerz.
Deutsch als erste Liebe
Und nun also der «Schweizer Grand Prix Literatur» der Eidgenossenschaft für das Gesamtwerk, dotiert mit 40'000 Franken. Die höchste und renommierteste Auszeichnung, die es in der Schweiz für Autorinnen und Autoren zu gewinnen gibt. Zum ersten Mal geht dieser Preis an eine Dichterin, die auf Rätoromanisch publiziert.
Das Werk der Autorin sei «von schroffer Schönheit», an der wir Leserinnen und Leser «uns ebenso reiben, wie die Romanfiguren an der oftmals schmerzvollen Welt», schreibt die Jury. Zugleich hebt sie hervor, dass die Bündnerin ihre Lyrik zweisprachig publiziert – in ihrer Muttersprache Vallader und auf Deutsch.
Indem Leta Semadeni die Übertragungen selbst vornimmt, erforsche sie «die Sprachbarrieren und spielt mit ihnen», so die Jury. «Deutsch ist meine erste Liebe gewesen», erklärt die Schriftstellerin.
Ob Deutsch oder Romanisch – die Liebe zur Sprache ist es, die Semadenis Schaffen durchdringt und es unverwechselbar macht: unprätentiös, lyrisch und zärtlich. Und gerade dadurch wuchtig. Der «Grand Prix» ist da nur logisch.