Reto Hänny sei ein Autor, «der den Miststock auseinandernimmt, nicht bloss hübsch zöpfelt», heisst es in der Begründung der Jury. Der Grand Prix Literatur für sein Gesamtwerk ist mit 40'000 Franken dotiert.
Aus dem Staunen kommt man nicht heraus, wenn man Reto Hänny liest. Hier wird Sprache zum Abenteuer. Mit rhythmischen Satzkonstruktionen, die sich über mehrere Seiten hinziehen können, gibt der Autor seinen Sätzen Schub und lässt sie abheben.
Nicht von ungefähr heissen zwei seiner autobiografisch unterlegten Bücher «Flug» (1985) und «Sturz» (2020). Das Motiv des Fliegens und des Abstürzens zieht sich durch Hännys Lebenswerk.
Als Kind in einem Bündner Bergdorf glaubte er, fliegen zu können. Der Traum vom Fliegen wurde schon bald durch die Eltern und den Grossonkel zerstört. Die Landung auf dem Boden der Tatsachen schmerzte. Der Weg des jungen Hänny in die Welt der Literatur und Musik war wegen einer Lese- und Rechtschreibschwäche beschwerlich.
Politisch engagiert über die Zürcher Unruhen
Hänny ist ein virtuoser Erzähler. Mit seinem Erfahrungsbericht «Zürich, Anfang September» über die Zürcher Unruhen zeigt er sich auch als politisch engagierter Autor.
Das Schreiben sei für ihn ein Balanceakt, sagte der Autor einmal in einem Interview mit SRF. Ein Balanceakt zwischen Gas geben, Schub herstellen und abstürzen. Doch Reto Hänny stürzt nie ab.
Ein Sprachkünstler und Komponist
Hännys Texte sind anspruchsvoll. Sie sind komponiert wie Musikstücke, sind melodisch, haben Rhythmus und Tonalität. Es empfiehlt sich daher, Hännys Texte laut zu lesen.
Die Faszination des Sprachklangs hat Reto Hänny bereits in seiner Jugend entdeckt. Als Fünfzehnjähriger hat er «Ulysses» von James Joyce verschlungen. Diese prägende Leseerfahrung fand ihre Fortsetzung Jahrzehnte später in Hännys Roman «Blooms Schatten» (2014).
Dahinter steckte die Idee, den «Ulysses» in einem einzigen Satz noch einmal zu schreiben. Reto Hänny wurde legendär als der Schweizer Autor, der die längsten Sätze schreibt.
Fern vom Mainstream
Die Geschichte von einem, der in die Welt hinausgeht, ist Hännys zentraler Stoff. Ihn hat er in immer neuen Variationen erzählt, hat ihn übermalt, übersetzt und weitergeschrieben. Für Hänny ist ein Text nie fertig.
Darum hat er auch 35 Jahre nach dem Erscheinen von «Flug» das Buch nochmals überarbeitet und weiterentwickelt, um seinem Stoff ein neues, zeitgemässes Gesicht zu verpassen. So ist «Sturz» entstanden.
Reto Hännys Lebenswerk ist keine Mainstream-Literatur. Es ist alles andere als das, was man heute von Literatur gewohnt ist. Seine Literatur ist nicht schnell, nicht klar und nicht eindeutig. Sie mäandriert, ist verdichtet, assoziativ, chaotisch. Sie bildet in ihrer Unwegsamkeit die Komplexität der Welt ab. Solche Literatur verdient allen Respekt – und den Grand Prix Literatur.