Hier ist noch alles möglich – sogar ein Wolf. Was wie aus einem Märchen anmutet, versetzt Gianna Molinari in ihrem Erstling in eine reale Szenerie: Eine junge Frau heuert in einer Fabrik als Nachtwächterin an, irgendwo in der Schweizer Agglomeration.
Die Fabrik soll geschlossen werden. Es herrscht eine ziemlich düstere Stimmung. Immer weniger Männer kommen zur Arbeit. Bis zu dem Moment, wo die junge Frau quasi allein in der Kantine sitzt.
Nichts passiert mehr. Wirklich gar nichts? Doch. Denn es geht das Gerücht, dass auf dem Firmengelände ein Wolf gesichtet worden sei. Und Wölfe sind gefährlich.
Deshalb soll die junge Nachtwächterin den Wolf einfangen. Am besten, findet der Chef, sie baut ihm eine Grube.
Gelungenes Debüt
Die junge Baslerin Gianna Molinari hat mit ihrem Debütroman «Hier ist noch alles möglich» eine schier unglaubliche Resonanz ausgelöst. Offenbar trifft sie mit dem Buch einen Nerv. Molinari steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018 und hat kürzlich den Robert Walser Preis für das Buch erhalten.
«In knappen Sätzen und mit einer luziden Sprache verzeichnet Gianna Molinari eine Welt, die im gemeinhin Gewöhnlichen ausserordentlich ist. Eine Welt, in der sich eben noch stabiles Gebiet auffaltet und rissig wird – und in der neue Grenzziehungen nötig werden», heisst es in der Begründung der Jury.
Das macht Molinari mit viel Gespür für Bilder: Eine stillgelegte Fabrik als Sinnbild unserer Arbeitswelt im Wandel. Ein Wolf – das wilde, ungezähmte Tier, vor dem man auch heute noch Angst haben muss, weil er sich ausserhalb unserer domestizierten Lebenswelt bewegt.
Der Mann, der vom Himmel fiel
Und plötzlich taucht noch ein unerwartetes Ereignis auf: ein Mann, der vom Himmel fällt. Diesen Mann, der vom Himmel fiel, gab es wirklich: Im Frühjahr 2010 wird in der Nähe von Weisslingen eine dunkelhäutige Männerleiche gefunden.
Es handelte sich um einen Mann aus Afrika, nur mit T-Shirt und Jeans bekleidet, etwa 20 Jahre jung, ohne Reisepass oder andere Dokumente am Körper. Gefallen aus 8000 Metern Höhe, aus dem Fahrwerkskasten eines Flugzeuges.
Molinari hörte damals die aufgearbeitete Geschichte im Radio auf SRF 2 Kultur – und liess sich von diesem Symbol für eine Gesellschaft, in der unzählige Menschen auf der Flucht sind und identitätslos gemacht werden, inspirieren.
Geschichte über einen Sturz
Die Passage über den Mann, der vom Himmel fiel, brachte ihr im letzten Jahr den 3sat-Preis beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ein. Und nun findet sich dieser Text in ihrem Debutroman wieder.
Die Geschichte über den Sturz des unbekannten Mannes habe sie damals sehr berührt, sagt Gianna Molinari im Gespräch.
Wusste der Mann von den Risiken, die er einging? Und was macht das mit uns, wenn ein namenloser, gesichtsloser Mensch in unsere Gesellschaft hineinfällt?
«Kann Literatur Identitäten erschaffen – und wie kann ich mit meiner Literatur dieser Geschichte entgegentreten?» Diese Fragen hätte sie beim Schreiben vor Augen gehabt – und dafür Bilder von einer feinen Eindringlichkeit geschaffen.
Doch was hat der Mann aus dem Flugzeug mit dem Wolf zu tun? Beide würden als Eindringlinge wahrgenommen, als Bedrohung, sagt Molinari. Dass sich der Wolf am Ende als doch recht zahm herausstellt, ist sicher auch symbolisch zu werten.