Houellebecq hat sich neu erfunden. Die NZZ findet zwar «nichts Neues unter Houellebecqs literarischem Firmament», aber der Roman setzt schon mit seinem Titel im Gesamtwerk des Autors einen thematischen Bruch.
«Serotonin» ist ein Buch über das Glück. Und Houellebecq experimentiert diesmal mit einer ungewöhnlichen Art von Erzähler: Er hat einen nicht alten, aber schon sterbenden Erzähler erfunden.
Ein Toter in den Ferien
Dieser Erzähler ist ein 46 Jahre alter Agronom. Als wir ihn kennenlernen, geht gerade seine Beziehung in die Brüche.
Er trennt sich von seiner japanischen Freundin. Nun ist er einsam und leidet an Depressionen. Ein Arzt verschreibt ihm Captorix, ein Antidepressivum.
Die Pille wirkt, aber sie killt seine Libido und seine Erektionsfähigkeit. Das bedeutet: Er stirbt langsam dahin, mit 47, weil der Verlust der Gefühle und des Begehrens für ihn gleichbedeutend ist mit dem Verlust des Lebens.
Er nimmt jetzt Kontakt auf mit den Freundinnen, die er geliebt hat: ganz verschiedene Frauen-Charaktere und sehr unterschiedliche Beziehungstypen treten in Erscheinung.
Und er nimmt Kontakt auf zu seinem einzigen männlichen Freund. Das tut er, um sich davon zu überzeugen, dass er gelebt hat.
Am Schluss des Romans ist dieser Erzähler ein alterndes Tier, das ein Lager zum Sterben sucht.
Mit Fernglas und Gewehr
Naturgemäss gibt es in dieser Erzählung viele Erinnerungen und Rückblenden, aber es gibt auch eine Gegenwartsebene im Frankreich von heute. Zu überstehen sind für den einsamen Erzähler die Tage über Weihnachten, Silvester und Neujahr, in denen die Einsamen noch einsamer sind als sonst im Jahr.
In diesen Tagen irrt der Erzähler durch Paris und durch die Bretagne, von Erinnerungen verfolgt. Er trifft seine ehemaligen Geliebten, sucht Orte auf, an denen er mit ihnen war, erlebt blitzartige Flashbacks, halluziniert Vergangenheit.
Im Lauf der Erzählung kommt er zu einem guten Fernglas und einem Präzisionsgewehr. Mit Fernglas und Gewehr verfolgt er nun seine ehemalige und immer noch Geliebte Camille.
Gewalt kommt ins Spiel. Zumindest als Möglichkeit.
Hat Houellebecq die Gelbwesten vorausgesehen?
Unserer Gesellschaft fehle es, konstatiert Houellebecq, an Liebe und an Libido. Das erzeuge Gewalt, auf allen Ebenen, auch in der Politik.
Der Erzähler hat einen männlichen Freund, einen Adligen, der auf einem Gut seiner Familie in der Bretagne Milchwirtschaft betreibt. Das gibt Gelegenheit, die Verarmung und Verzweiflung der französischen Bauern darzustellen.
Dieser Erzählstrang endet in einer brutalen Jacquerie, einem gewalttätigen Bauernaufstand, wie er in Frankreichs Geschichte seit Jahrhunderten bis in unsere Zeiten vorkam. Davon zu sprechen ist nicht prophetisch, sondern historisch.
Houellebecq hat nicht die Demonstrationen der Gelbwesten vorausgesehen, wie einige Medien behaupteten, sondern er hat in Frankreichs Geschichte geblickt.
Ein sensibler Liebes- und Zeitroman
Ein paar dumme, unergiebige Seitenhiebe kann Houellebecq auch in diesem Roman nicht lassen. Beispielsweise den Griff in die Mottenkiste der Völkerpsychologie: Die Holländer seien geldgierig und so weiter.
Wichtig aber: «Serotonin» ist ein sensibler, differenzierter Liebes- und Zeitroman.