So ein Coup gelingt Schweizer Literaturschaffenden nur einmal pro Jahrzehnt – wenn es hoch kommt: «Blutbuch», der Debütroman von Kim de l’Horizon, einer non-binären Autorenperson, räumte letzten Herbst sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis ab.
In Blutbuchs Fahrwasser
Durch diesen Erfolg erhielten auch andere queere Autorinnen und Autoren mehr Aufmerksamkeit, etwa Simon Froehling, ebenfalls für den Schweizer Buchpreis nominiert, oder die junge Autorin Darja Keller. Kann man bereits von einem Boom sprechen?
Der Berner Patrick Roth, Buchhändler bei «Queerbooks», hat nicht den Eindruck, dass der Erfolg queerer Bücher aus dem Nichts kommt: «Es gibt uns jetzt seit elf Jahren und unser Absatz ist stetig gestiegen», so Roth.
Auch das Angebot der queeren Buchhandlung sei breiter geworden: «Früher haben wir Romane selbst dann ins Sortiment aufgenommen, wenn es nur einen schwulen Nebencharakter gab. Inzwischen gibt es deutlich mehr Auswahl.»
Regenbogen über Solothurn
Angekommen ist das Thema auch an den Solothurner Literaturtagen. 2023 nehmen dort viele queere Schreibende teil, neben Kim de l’Horizon etwa Hengameh Yaghoobifarah.
Ein bewusster politischer Entscheid? Nein, erklärt Co-Leiterin Nathalie Widmer: «Wir setzen keine Programmschwerpunkte und wählen dann Autorinnen und Autoren dazu aus.» Es sei vielmehr umgekehrt: Dieses Jahr habe es auffallend viele starke Texte gegeben, die zufällig auch queer seien.
Zudem sei das Thema in der Literatur nichts Neues, so Widmer. Das wolle man auch mit einem Podium zeigen. Dort diskutiert der Basler Autor Alain Claude Sulzer mit zwei jungen queeren Literaturschaffenden. Der 70-Jährige schreibt schon seit Jahrzehnten Romane mit schwulen Hauptfiguren.
Querstehen seit 40 Jahren
Ein queerer Pionier ist auch Christoph Geiser, dessen Werk in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, nachdem es zeitweise etwas in Vergessenheit geraten war. Der heute 73-jährige Schweizer schrieb bereits 1984 mit «Wüstenfahrt» einen Roman über ein schwul-bisexuelles Männerpaar.
Ab da setzte Geiser sich literarisch vermehrt und expliziter mit Homosexualität auseinander: «Das löste damals bei der Leserschaft und der Kritik Irritationen aus», erinnert er sich.
Das Label queer gebe es schon länger, so der Schriftsteller. «Ich mochte es immer, weil es das Quer-zu-allem-Stehen ausdrückt.» Nicht komplett neu seien auch die Themen, über die etwa Kim de l’Horizon schreibe, auch wenn neue Begriffe dazu gekommen seien.
Mühe mit dem Genderstern
Geiser sieht eine Verwandtschaft zwischen sich und de l’Horizon: «Das Anliegen, die Körper durch die Sprache zu befreien, teile auch ich.» Allerdings habe er Mühe mit Begriffen wie «non-binär» – sie würden etwas Fluides in eine feste Form giessen, findet der Autor, der auch den Genderstern eher kritisch sieht.
Wie ordnet der Vorreiter den aktuellen Boom der queeren Literatur ein? Was deren Wahrnehmung angehe, habe es immer Wellen gegeben, sagt er. Momentan könne man aber fast schon von einem Tsunami sprechen.
Die Recherche zeigt: Queere Anliegen und Themen sind nicht neu, sondern waren schon immer da. Es wäre also falsch, von einem blossen Trend zu sprechen – viel eher hat sich der Horizont der Literaturbranche in den letzten Jahren erweitert.