Zugegeben: Es gab Necati Öziris im Gangsta-Rap gehaltenen Brief an den Vater, der die Familie verliess und in die Türkei zurückging, obwohl er wusste, dass er für Jahre im Gefängnis verschwinden würde («Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben»).
Das Dokument einer privaten, gesellschaftlichen und politischen Verunsicherung kommt so freundlich und beschwingt daher, dass es wie geschaffen schien für den BKS Bank-Publikumspreis, den es dann auch bekam, ebenso wie den Kelag-Preis.
Ansonsten waren die ersten beiden Lesetage des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs flau. Dann aber kam der Samstag.
Brillanter Samstag mit Nava Ebrahimi
Plötzlich waren da Texte, die nicht nur handwerklich brillierten, sondern auch eine inhaltliche Dringlichkeit hatten. Dana Vowinckel erzählte vom Leben in jüdischen orthodoxen Gemeinschaften, vom Riss zwischen Welten («Gewässer im Ziplock», Deutschlandfunk-Preis). Timon Karl Kaleyta sezierte in pseudo-altmeisterlicher Manier die Abgründe einer Männerfreundschaft und die Neurosen des wohlstandsverwahrlosten Erzählers («Mein Freund am See», 3sat-Preis).
Das machte Hühnerhaut beim Hören, weil Inhalt und Erzählweise so sehr in gegenseitigem Dienst standen, dass man der gespenstischen Welt des Erzählers nicht entkommen konnte. Dasselbe gilt auch für jenen Text, der mit dem 45. Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, für «Der Cousin» von Nava Ebrahimi.
1978 in Iran geboren, in Deutschland aufgewachsen und seit einigen Jahren in Graz lebend, schreibt Nava Ebrahimi in ihrem Klagenfurter Text über die Überschneidungen, die sich aus ihrer Biografie ergeben. Das bedeutet freiwillige und unfreiwillige Ortswechsel, politische Verwerfungen, gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Irritation, die bleibt, Leid, das nicht heilt. Erzählt wird es als eine fliessende Grenze im vielleicht nur imaginierten Austausch zwischen Cousine und Cousin, einem schwulen Tänzer.
Gerne hätte die Preisträgerin ein paar Worte gesagt, gerne hätte man ein paar Worte von ihr gehört. Aber ihr kamen die Tränen («Seit ich Kinder habe, weine ich bei jeder Gelegenheit»). Danach war in der etwas schusselig und lieblos durchgeführten Ausmarchung und Preisverleihung keine Zeit mehr für ein Gespräch. Das war schade.
Die Jury stritt sich so unangenehm wie selten
Auch anderes irritierte am diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Unter den 14 Texten waren auffallend viele zwar gut gemacht, aber ohne jegliche Dringlichkeit.
Nicht mal dezidierten Spass am Erzählen oder Lust am Spiel mit der Sprache gab es. Das gilt auch für die beiden Schweizer Texte, die leer ausgingen, obwohl Julia Webers Erzählung um zwei Frauen und ihre Körper («Ruth») und Lukas Maisels Tinder-Geschichte «Anfang und Ende» durchaus auch Jury-Lob einheimsen konnten.
Die sieben Klagenfurter Jurorinnen und Juroren tagten dieses Jahr neu unter dem Vorsitz von Insa Wilke. Die Germanistin und Journalistin u.a. für die Süddeutsche Zeitung ist eine brillante und freundliche Kommunikatorin. Trotzdem stritt sich die Jury so unangenehm wie selten.
Die österreichische Schriftstellerin Vea Kaiser, neu in der Jury, setzte ihr persönliches Empfinden als absoluten kritischen Massstab und sagte inflationär «grossartig». Dagegen lieferten sich die Juroren Klaus Kastberger und Philipp Tingler nicht nur ihren Privatwettbewerb ums beste T-Shirt, sie fetzten sich oft unter der Gürtellinie und auf Kosten der Autorinnen und Autoren.
Diskussionsniveau wurde kritisiert
So erging es Lukas Maisel, der zwischen die Fronten von Klaus Kastberger («Ich habe nicht das Gefühl, dass der Text darüber etwas sagt, was ich nicht schon lange gewusst habe») und Philipp Tingler geriet, der ihn nach Klagenfurt eingeladen hatte («Wenn hier einige dafür zu alt oder zu verschlossen dafür sind, dann tut mir das leid»).
Die Autorin Heike Geissler hatte sich noch vor der Preisausmarchung öffentlich zu Wort gemeldet und das Diskussionsniveau der Jury kritisiert. Das legt offen, was Klagenfurt eben auch ist: eine Show. Wie Fussball, aber Literatur.