Ende Juli 1921 wird in Genf ein Temperaturrekord von 38.3 Grad verzeichnet. Was damals ein Jahrhundertereignis ist, sind wir inzwischen gewöhnt. Zu jener Zeit aber ist eine derartige Hitze aussergewöhnlich.
Den waadtländischen Autor Charles Ferdinand Ramuz hat der Sommer 1921 zu einem Gedankenexperiment inspiriert: Was, wenn diese Hitze nie mehr weggeht? Was, wenn es immer heisser und heisser wird? Und: Wie reagieren Menschen im Angesicht einer Katastrophe?
Klimafiktion vom Genfersee
Diese Fragen verhandelt Ramuz im Roman «Présence de la mort». Vor 100 Jahren erschienen, ist das Buch heute aktueller denn je. Eine Dystopie. Und vor allem: Klimafiktion.
Eine deutsche Übersetzung gab es bislang nicht. Erst jetzt hat der Roman endlich seinen Weg ins Deutsche gefunden. Unter dem Titel «Sturz in die Sonne» erscheint der Roman dieser Tage im Limmat-Verlag.
Gravitationsunfall im All
Ausgangspunkt des Romans ist ein Gravitationsunfall im Universum. Wissenschaftler haben entdeckt, dass die Erde dabei ist, in die Sonne zu stürzen. Die Erde wird verglühen, alles Leben enden. Es bleiben nur noch wenige Wochen. Diese Nachricht geht um die Welt.
Was die Menschen nun tun? Zunächst ignorieren sie ihr Schicksal. Als sie merken, dass es tatsächlich immer wärmer wird, reden sie sich die Sache schön: Sie preisen das tolle Wetter, den blauen Himmel, hoffen auf guten Wein. Doch schon bald wird sich nichts mehr schönreden lassen. Die soziale Ordnung gerät aus den Fugen.
Mit psychologischem Gespür leuchtet Ramuz das Wesen der Menschen aus. Er beschreibt ihr Verhalten während einer Katastrophe, die nicht schlagartig, sondern schleichend kommt.
Und genau darin liegt die Aktualität dieses 100 Jahre alten Romans: Er liest sich wie eine schreckliche Prophezeiung. Er ist beklemmend. In unserem Umgang mit der Klimakrise hält er uns den blankgeputzten Spiegel vor.
Ein Flop zu Lebzeiten
Charles Ferdinand lebte von 1878 bis 1947. Er gilt als der bedeutendste Autor der französischsprachigen Schweiz. Dass trotzdem noch nicht alle seine Werke ins Deutsche übersetzt sind, dürfte auch mit Ramuz' kompliziertem Stil zu tun haben.
«Présence de la mort» ist bei seinem Erscheinen im Jahr 1922 sogar gefloppt. Das Buch wurde von der Kritik ignoriert oder verrissen und auch deshalb kaum in andere Sprachen übersetzt. Zumal die Menschen jener Zeit wahrscheinlich wenig anfangen konnten mit einer Dystopie über unaufhaltsam steigende Temperaturen.
Szenen einer Katastrophe
Inzwischen ist der Text zwar erschreckend aktuell. Leicht lesen lässt er sich aber auch heute nicht. Der Roman hat keine stringente Handlung. Ramuz springt von einer Szene zur nächsten. Ständig wechselt er die Perspektive. Es gibt keine Figur, an die man sich von Anfang bis Ende klammern könnte.
Auch stilistisch ist er ein wildes Gemisch. Mal schreibt Ramuz in einem fast biblischen Ton, dann wieder sehr mündlich, umgangssprachlich, derb.
Die Übersetzungsarbeit dürfte daher alles andere als leicht gewesen sein. Steven Wyss hat sich aber souverän geschlagen. Gut, wie er diesen Schatz vom Genfersee für die deutschsprachige Leserschaft geborgen hat.