Eveline Haslers Markenzeichen ist es, regelrecht in die Köpfe ihrer Figuren zu schlüpfen und die Leser unmittelbar an deren Leben teilhaben zu lassen. Im Unterschied zu vielen anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, schlüpft sie aber in die Köpfe von Menschen, die tatsächlich gelebt haben. Seit den 1980er Jahren hat sich die Schweizer Schriftstellerin dem dokumentarischen Roman verschrieben und war damit von Beginn weg sehr erfolgreich.
Mit den Figuren «leben»
Grundbedingung dieses Schreibens sind aufwändige Recherchen in Bibliotheken und Archiven sowie Besichtigungen der historischen Schauplätze. Diesen Prozess des Kennenlernens beschreibt Hasler als «Leben mit meinen Figuren», meist während einer Zeitspanne von ungefähr drei Jahren.
Auf die Frage, warum sie so gerne über real existierende Menschen schreibt, hat sie eine so einfache wie bestechende Antwort: «Nichts interessiert mich so wie Menschen, die wirklich gelebt haben. Denn nichts ist so phantastisch wie die Wirklichkeit.»
Kämpferin für verdrängte Persönlichkeiten
Angetan haben es ihr insbesondere in Vergessenheit geratene sowie historisch verdrängte Persönlichkeiten. Figuren also, die nicht in das enge Korsett der Gesellschaft passen oder bewusst von davon abweichen. Und als Bedrohung empfunden, werden diese Figuren weit aus dem Blickfeld der Allgemeingeit geschoben. Allen voran Frauen: Solche mit besonderen Fähigkeiten, intellektuelle Frauen, Frauen mit einem unverkrampften Verhältnis zur Sexualität. Eveline Hasler dazu: «Meine Figuren faszinieren mich, weil sie ein gewisses ‚Darüber Hinaus‘ haben. Sie gehen über die eng gelegten Normen und Geleise, die Menschen für andere Menschen aufstellen.»
Der Beginn der Auseinandersetzung mit einer Figur können ganz lapidare Zufälle sein. Bei ihrem neuesten Buch «Mit dem letzten Schiff» ist sie beispielsweise durch ein Foto auf die Protagonistin Rösy Fäh gestossen: «Sie war eine rot-prächtige Frau, die so richtig stämmig dastand, um die Kinder zu beschützen.» Rösy Fäh tat dies in Südfrankreich in der Kinderkolonie «Chateau de la Hille», wo sie während des zweiten Weltkrieges unzählige jüdische Waisenkinder vor der Deportation und dem Tod rettete.
Verkannte Frauen und traumatische Tode
Der Tod, darum geht es immer wieder in Haslers Büchern. Und in Zweien um die Anprangerung vom «Hexentum.» Die Figuren bezahlen für ihr Anderssein, allen voran die Magd Anna Göldin, Glarnerin, wie die Schriftstellerin selber. Mit deren Geschichte, die ihr lange niemand erzählen wollte, gelang Eveline Hasler 1982 im Roman «Anna Göldin. Letzte Hexe» der Durchbruch.
Wie Anna Göldin wurden auch die Kinder im 1997 erschienenen Roman «Die Vogelmacherin» wegen ihres Andersseins und ihrer Phantasie der Hexerei für schuldig befunden, gefoltert und schliesslich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Ihr bislang erfolgreichstes Buch «Die Wachsflügelfrau» ist ein erschütternder Lebensbericht von Emily Kempin-Spyri, der Nichte der Erfolgsschriftstellerin Johanna Spyri. Obwohl sie 1887 als erste Juristin in Europa promovierte, war ihr Leben ein nicht enden wollender Kampf: um eine Lehrtätigkeit, der Zulassung als Anwältin, dem finanziellen Auskommen, dem Wohl der Kinder und dem kranken Mann – bis sie schliesslich entmündigt in einer Basler Psychiatrie starb.
Aus dem Schicksal der Toten lernen
Die Tragik, die allen porträtierten Schicksalen innewohnt, löst in Eveline Hasler nicht nur Interesse aus, sondern stellt eine Notwendigkeit dar: «Mir geht es um Gerechtigkeit. Wir dürfen Persönlichkeiten, die uns an schlimme Zeiten erinnern, nicht wegschieben. Wir müssen die Vergangenheit anschauen, um eine freie Gegenwart zu haben.»
Sendungen zu Eveline Hasler
Insofern steht für sie nicht die Aussergewöhnlichkeit eines Stoffes und dessen Verkaufspotenzial im Vordergrund, es geht ihr vielmehr darum, aus der Vergangenheit Aussagekräftiges für das Leben hier und jetzt zu filtern: «Meine Figuren haben mir etwas zu sagen für meine Gegenwart. Es entspinnt sich wie ein innerer Dialog zwischen uns; es gibt so etwas wie eine Brücke, die mir etwas erklärt von meinem Heute.»
Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Frauen
So geht es in «Anna Göldin. Letzte Hexe» nicht nur um Aberglauben und Hexenwahn, sondern auch um die grundsätzliche Behandlung von Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft. Und es geht um Ausgrenzungsmechanismen, wie sie gemäss der Literaturwissenschaftlerin Beatrice von Matt «bis heute selbstbewussten und attraktiven Frauen gegenüber in Gang kommen». Auch das Buch «Die Wachsflügelfrau» führt exemplarisch das Vordringen einer Frau in bisher Männer vorenthaltenen Berufsfeldern vor und veranschaulicht die Probleme, die sich beim Verbinden von Beruf und Mutterrolle ergeben – nach wie vor aktuelle Fragen.