Drei Tage will eine Frau mittleren Alters mit ihrer Cousine und deren Mann im Jagdhaus der beiden in den Bergen verbringen. Nach der Ankunft geht das Paar noch auf einen Sprung ins Wirtshaus im Tal, die Frau legt sich schlafen. Am nächsten Morgen findet sie sich allein und macht sich zusammen mit dem Hund besorgt auf die Suche – bis dieser sich am Ausgang der Schlucht an einer unsichtbaren Sperre die Schnauze blutig stösst.
Durch das Fernglas erkennt die Frau, dass jenseits der rätselhaften Wand Totenstarre herrscht: Sie ist der Katastrophe entkommen, aber gefangen. Nun beginnt ein Überlebenskampf, über den sie zweieinhalb Jahre nach jenem Frühlingsmorgen auf dem wenigen Papier, das ihr geblieben ist, Zeugnis ablegt:
Der Natur und den Tieren ausgeliefert
Abgeschnitten von jeglicher Zivilisation, lernt die Frau nach und nach, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Marlen Haushofer, 1920 in einem kleinen oberösterreichischen Dorf als Tochter eines Försters geboren, schildert diesen Prozess fast schon gespenstisch genau: Der Umgang mit den verbliebenen Vorräten, den Ressourcen des Waldes, den Naturgewalten, dem Hund, der zugelaufenen Katze – und einer trächtigen Kuh, Überlebenshilfe und Bürde zugleich: «So ein Tier will gefüttert und gemolken werden und verlangt einen sesshaften Herrn. Ich war der Besitzer und der Gefangene einer Kuh. Aber selbst wenn ich die Kuh gar nicht gewollt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, sie zurückzulassen. Sie war auf mich angewiesen.»
Keine idyllische Robinsonade
So etwas wie tragischen Schmelz sucht man in Marlen Haushofers Roman vergeblich. Denn die Frau weiss sehr genau, welche Zwänge ihr Leben bestimmten, als es die Wand noch nicht gab. Es waren die Zwänge, unter denen auch Marlen Haushofer gelitten hatte: jene der bürgerlichen Welt der Nachkriegszeit, die Frauen kaum Entfaltungsmöglichkeiten bot. Nun muss sie zwar nicht mehr mitspielen, muss nicht mehr lügen («alle, denen zuliebe ich mein Leben lang gelogen habe, sind tot»), ist aber umso heftiger sich selbst ausgesetzt. Von idyllischer Robinsonade keine Spur.
Haushofer hinterfragt ohne Illusion
Immer wieder erwägt die Frau den Tod durch eigene Hand. Ihr Verantwortungsgefühl für die Tiere und ihre Nüchternheit halten sie davon ab. Illusionslos hinterfragt sie, was sie prägte: stereotype Geschlechterrollen und eine Welt, welche die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verdrängte, sich stattdessen ins Wirtschaftswunder und in den Kalten Krieg stürzte: «Als ich geboren wurde, hatte ich eine Chance, aber weder meine Eltern, meine Lehrer noch ich selbst waren imstande, sie wahrzunehmen. Jetzt ist es zu spät. Ich werde sterben, ohne meine Chance genützt zu haben. Ich war in meinem ersten Leben ein Dilettant, und auch hier im Wald werde ich nie etwas anderes sein.»
So wundert es nicht, dass die Frau auf die Sinnfrage keine Antwort hat und sich davor hütet, die sie umgebende Natur zu verklären:
Beispielhafter Bericht einer isolierten Frau
Marlen Haushofer selbst hat versucht, den Zwängen ihrer Existenz zu entkommen, indem sie sich ihnen anpasste und sich klein machte. «Hier eine Katzengeschichte» – mit diesen Worten übergab sie ihrem Mentor, dem Schriftsteller und Theaterkritiker Hans Weigel, das Manuskript von «Die Wand».
Ihre Zeitgenossen goutierten den beispielhaften (und beispiellosen) Bericht einer hermetisch isolierten Frau nicht. «Platt», «zäh», «schwunglos und langweilig», lautete das Urteil über den Roman. So, wie man der Autorin überhaupt «Banalität der Introspektion» und «Trivialthemen» vorwarf. Ohne zu begreifen, dass das Programm war. Oder, wie Marlen Haushofer kurz vor ihrem frühen Krebstod mit 49 Jahren schrieb: «Mach dir keine Sorgen – alles wird vergebens gewesen sein – wie bei allen Menschen vor dir. Eine völlig normale Geschichte.»
Heute hingegen darf man sich in Sachen «Die Wand» getrost auf das Urteil von Hans Weigel verlassen: «Ein grosser Bericht, dessen äusserste Einfachheit klassisches Mass erreicht. Man kann ihn einreihen unter die Meisterwerke abendländischer Literatur.»