«So. Hier bin ich, kopfüber in einer Frau. Ich warte, die Arme geduldig gekreuzt, warte und frage mich, in wem ich bin und worauf ich mich eingelassen habe.» Ian McEwan versteht es, sein Publikum gleich schon mit dem allerersten Satz zu packen.
Ein Ungeborenes meldet sich da zu Wort. Bald schon ahnen wir: Es hat nicht die besten Startchancen. Denn seine werdende Mutter scheint es faustdick hinter den Ohren zu haben.
Vater in Gefahr
Den Kindsvater hat sie aus seiner Familienvilla rausgeschmissen. Damit sie in Ruhe ihren Schwager ins Haus holen kann.
Der wachsende Embryo erkennt, dass in seinem Umfeld mörderische Pläne geschmiedet werden. Er möchte diese durchkreuzen, hat aber keine Möglichkeiten, in den Lauf der Dinge einzugreifen.
Ian McEwan liefert uns hier eine Art kriminalistisches Kammerspiel: Der Grossteil der Handlung spielt hinter verschlossenen Türen. Der Winzling rapportiert uns, was er heimlich hört. Was er fühlt. Was er glaubt.
Alle Indizien weisen darauf hin: Sein Vater, ein verträumter Lyrik-Schreiber, schwebt in höchster Gefahr: Gift soll ihm zum Verhängnis werden. Gift, das im Körper keine Spuren hinterlässt.
Der Leser als Voyeur
Ian McEwan kehrt in «Nussschale» zu seinem Ur-Thema zurück. Er kennt sich aus in den menschlichen Abgründen. Immer wieder hat er die dunklen Seiten ausgelotet und vielschichtig gezeigt, dass Männer und Frauen zu allem fähig sind – besonders wenn es um Liebe, Macht oder Besitz geht. Kein Wunder fühlt man sich, auch sprachlich, zuweilen an ein Shakespeare-Drama erinnert.
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Die ungewöhnliche Erzähl-Perspektive macht klar den Reiz des Romans aus und lässt uns die alte Geschichte von Lüge und Verrat völlig neu erfahren: wir bekommen alle brisanten Details von einem praktisch Blinden geliefert - sind allein auf seine Höreindrücke und Spekulationen angewiesen.
Ian McEwan steckt uns so in die klassische Rolle des Voyeurs, der gierig alle zugespielten Informationen aufschnappt und sie dann zu eigenen Bildern und Interpretationen vervollständigt.
Charles Lewinsky lässt grüssen
Diese eingeschränkte Optik des im Mutterleib Gefangenen ist zweifellos ein anspruchsvolles literarisches Verfahren, das auch leicht daneben gehen könnte. Ian McEwan hat es im Griff.
Wie übrigens auch ein anderer Schrifsteller, dessen Buch ebenfalls im Bauch beginnt: Charles Lewinsky und sein jüngster Roman «Andersen». Wird Embryo-Talking also zur Mode? Lassen sich weitere Schrifsteller dazu inspirieren ?
Wenn sich das Resultat so temporeich, klug und hintergründig lesen lässt, wie das neueste Beispiel «Nussschale», so können Leserinnen und Leser diesen Trend nur begrüssen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 26.10.2016, 06:50 Uhr