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Literatur Leben in New York – legal, illegal, scheissegal

Thomas Pynchon macht sich rar: Er gibt keine Interviews, lässt sich nicht fotografieren. Und regt damit die Fantasie seiner Fans an – genauso wie sein achter Roman «Bleeding Edge»: Er strotzt vor Anspielungen und Hinweisen, die Pynchon-Fans gerne im Internet zu entschlüsseln versuchen.

Um den amerikanischen Autor Thomas Pynchon ranken sich die wildesten Gerüchte. Warum? Ganz einfach: Weil er sich der Öffentlichkeit entzieht. Er gibt keine Interviews, lässt sich nicht fotografieren, tritt nicht in Talkshows oder Lesungen auf. Nichts wirkt offenbar phantasieanregender als ein Mangel an Information.

Mit Hilfe von Photoshop-Programmen wird versucht, Pynchons Alterungsprozess nachzuzeichnen. Die Frage, ob er seine auffälligen Vorderzähne, die man von Jugendfotos her kennt, hat operieren lassen, wird diskutiert. Das Interesse an seiner Person ist gross – weil das Interesse an seiner Literatur noch grösser ist.

Pynchon-Wiki

Buchhinweis

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Thomas Pynchon: «Bleeding Edge.» Rowohlt, 2014.

Pynchon hat eine internationale Fangemeinde, von der andere Autoren nur träumen können. Der Grund dafür liegt wohl in seiner Art, zu schreiben. Nehmen wir seinen letzten, achten Roman «Bleeding Edge», auf Deutsch ein Monster von 600 Seiten – geschrieben in Pynchons anspielungsreichem Plauderton. Der Autor bombardiert uns darin mit Verweisen auf Filme, Musikstücke, Mode, New Yorker Kneipen, Drinks, Essen, Stars – und seine Fans spielen das Entschlüsselungsspiel, das er ihnen anbietet, mit einer Hingabe, die ihresgleichen sucht. So zum Beispiel auf bleedingedge.pynchonwiki.com, wo seine treuen Leser Seite für Seite, Zeile für Zeile Hintergründe, Fotos, Töne, Assoziationen zum Text liefern.

Zu viel Information?

Pynchon ist allerdings nicht einfach nur ein Schaumschläger. Seine Strategie, sich der Öffentlichkeit zu entziehen und gerade dadurch Phantasien freizusetzen, sein Überangebot an Anspielungen im Sprachstil seiner Romane – beides hat mit dem zentralen Thema seiner Literatur zu tun. Der Literaturkritiker Beat Mazenauer, ein hierzulande selten versierter Kenner von Pynchons Werk, hat es herausgearbeitet: Pynchon beschreibt eine Welt, in der es dermassen viele Informationen gibt, dass wir sie nicht mehr überblicken oder einordnen können. Das Übermass an Information erzeugt Unwissen, Verlorenheitsgefühle und Ängste. Ein Humus, auf dem die absurdesten und irrationalsten Verschwörungstheorien erblühen.

«Fleischwelt» und Internet

Der Roman «Bleeding Edge» spielt in New York im Jahre 2001, im Milieu der Internetszene, kurz nach der ersten grossen Internetkrise. Es ist ja noch nicht lange her, wirkt aber wie eine uralte Geschichte: Damals zerstoben die hochtrabenden Utopien von Freiheit und Demokratie, die sich mit dem Internet verbunden hatten. Was blieb, waren ökonomische Ruinen, weltanschauliche Trümmer, düstere Geschäfte und zwielichtige Gestalten. Realität und Fiktion, «Fleischwelt» und Internet verschwimmen. Auf weite Strecken im Leben gilt das Prinzip: legal – illegal – scheissegal. Das Netz bietet neue Möglichkeiten – z.B. für eine Kassensoftware, die jeden dritten Verkauf nicht abrechnet. Oder für Waffendeals im «Deep Web», wo Suchmaschinen angeblich nicht hinkommen. Oder für ein Infrarotprogramm, das Ampeln auf Grün schaltet, wenn man grad mal abhauen muss …

Altes und neues Netz

Was unter unseren lesenden Augen aus der Internetkrise entsteht, ist das Internet von heute: ein hochgradig Apparat, der ökonomischen Interessen unterworfen ist. Und parallel dazu erleben wir die rasanten Veränderungen der Stadt New York. Es gibt betörend schöne Szenen wie etwa eine nächtliche Fahrt auf dem Hudson. Aber auch den Prozess der Gentrifizierung: New York wird nach den Imperativen des Geldes umgestaltet.

Pynchon gibt sich zwar gerne cool und ironisch in seinen Romanen, wenn es aber um New York geht, da versteht er keinen Spass: «Bleeding Edge» ist nicht zuletzt ein schöner New York-Roman.

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