In seiner allerletzten von hunderten Kolumnen für die «Schweizer Illustrierte» hat sich Peter Bichsel Ende 2014 bei seinen Leserinnen und Lesern dafür bedankt, dass sie ihm zugehört und auch mit ihm geschwiegen hätten. Er verabschiede sich nun und versuche, geradeaus zu gehen.
Geradeaus gehen, das verweist klar auf die erste von Bichsels längst ‹klassischen› Kindergeschichten von 1969, in der ein 80-jähriger Mann – ausgerüstet einzig mit einer grossen Leiter – aufbricht, um strikt geradeaus zu gehen und so zu erfahren, dass die Erde rund ist.
Diese gradlinige Unbeirrbarkeit wie auch das Zusammen-Schweigen-Können: Sie gehören zu den Kennzeichen des Autors und Menschen Bichsel, den ich nicht nur im übertragenen Sinn für das Herz der gegenwärtigen Schweizer Literatur halte. Er ist eine ihrer produktivsten Antriebskräfte, auch weil er sich eigensinnig und ohne Scheuklappen in aktuelle Debatten einmischt: ein Volksschriftsteller in der Tradition von Jeremias Gotthelf und Johann Peter Hebel, ein republikanischer Mahner in der Nachfolge seines Freundes Max Frisch.
Ohne Geschichten nicht überlebensfähig
Doch zuallererst ist er ein grandioser Poet, der in ungemein dichter Prosa Geschichten erzählt. Was eine Geschichte sei, was das Erzählen – diese Frage hat ihn nie losgelassen. Bei unserem ersten Radiogespräch vor 30 Jahren über den Erzählband «Der Busant» hatte mich schon sein «Lehrling von Prey» fasziniert, der gelernt hat, «den Augenblick des Erzählens jedem Wissen und jeder Brauchbarkeit vorzuziehen». Heute ist Bichsel erst recht überzeugt, dass der Mensch ohne Geschichten «nicht überlebensfähig» wäre. Dabei sind Geschichten für ihn weder Geschehnisse noch Tatsachen. Sie haben nichts mit Sensationen und Pointen zu tun, sondern mit dem Ritual des Erzählens selbst, dem Umgang mit Zeit, der Endlichkeit des menschlichen Lebens, mit Sehnsucht und Trauer, gefasst in eine glasklare Sprache.
Von einem Kind gefragt, ob er lieber lustige oder traurige Geschichten erzähle, gibt ein Erzähler in «Zur Stadt Paris» zur Antwort: «Wenn ich es unterscheiden könnte, dann möchte ich lieber traurige erzählen.» Hier ist Bichsels Erzählposition verortet. Und auch die traurigen Geschichten erzählt dieser Autor mit menschlicher Wärme, dabei knapp und mit Auslassungen, welche den Lesenden Raum für Empathie und Reflexion eröffnen, beispielhaft etwa in der Miniatur «Die Hemden», einem Liebesroman in drei Dutzend Wörtern:
«Wenn du mal stirbst», sagt sie, «werde ich deine Hemden nicht weggeben.» Seine Hemden sind swissairblau.
«Ich mag es, deine Hemden zu bügeln», sagt sie.
«Ich möchte vor dir sterben», sagt sie.
Swissairblau war damals eine Farbe.
(Aus «Zur Stadt Paris», 1993)
Mit seinem singulären Textmassiv von Kolumnen hat Bichsel zudem – meilenweit entfernt vom Randspaltengeschwätz in Gratispostillen – eine alte Form literarisch neu belebt und darin einen Alltags-Roman unserer Zeit verborgen.
Die Kunst, verborgen zu bleiben
Nun wird dieser Meister des vordergründig unscheinbaren, schlichten, in Wahrheit höchst kunstvollen und abgründigen Schreibens 80 Jahre alt und am 24. März im Stadttheater Solothurn unter dem augenzwinkernden Motto «Wir sind noch viel zu jung» gefeiert.
Mir gefällt, wie es Bichsel gelungen ist, in einer Zeit, in der Diskretion und Privatsphäre wenig gelten, seine Geheimnisse zu wahren. Natürlich kennen wir alle sein Bild – den Mann mit den grossen runden Brillengläsern und den verschmitzt-melancholischen Augen dahinter, mit dem schwarzen Gilet, goldener Taschenuhr und Schirmmütze, mit seiner warmen Stimme, seinem nachdenklich-zögernden Formulieren.
Doch wer ist der seit jeher bedächtig schreitende Fussgänger, der gerne Schwingfeste besucht, weil ihm die familiär-friedliche Atmosphäre unter den «Bösen» behagt? Wer ist er wirklich? «Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber zu benehmen, als kennte er mich»: Diesen Satz von Robert Walser hat Peter Bichsel an die Wand seines Arbeitszimmers in der Solothurner Altstadt gepinnt. Das haben wir ernst zu nehmen.
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Und wünschen uns heute trotzdem, das zur Freundschaft hochbegabte Geburtstagskind möge nicht verstummen und sein poetisches «Metzgerspiel» in leuchtenden Sätzen noch lange weiterspielen – das seit je von Kindern und Dichtern geübte Abheben vom allzu Realen ins Fantasierte, ins Geträumte:
«Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht wäre, wie es ist.»
Herzlichen Glückwunsch!