In der ostslawischen Literatur finden sich viele eindrucksvolle Darstellungen des Kriegs. Zu den bekanntesten gehören diejenigen des russischen Altmeisters Lew Tolstoj. Aber auch neuere Werke etwa der Belarussin Swetlana Alexijewitsch oder des Ukrainers Andrej Kurkow benennen das Grauen des Kriegs schonungslos genau.
Alle diese Bücher zeichnen ein ungeschminktes Bild vom Elend, das der Krieg anrichtet. Bei den Soldaten an der Front – und bei der Zivilbevölkerung, die der entfesselten Gewalt schutzlos ausgesetzt ist und oft alles verliert.
Literatur kann kein Versagen vorgeworfen werden
«Wer diese Bücher gelesen hat, kann eigentlich keinen Krieg mehr beginnen», gibt sich die ukrainische Lyrikerin Halyna Petrosanyak, die seit sechs Jahren in der Schweiz lebt, am Rande der Eröffnung der Solothurner Literaturtage überzeugt. «Allerdings müsste man die Bücher eben tatsächlich auch lesen.»
Putin habe dies kaum getan, so Petrosanyak. Und wohl auch seine Soldaten nicht. «Ansonsten würden diese für die Menschen in der Ukraine Empathie empfinden und nicht sinnlos töten, vergewaltigen und plündern.»
Halyna Petrosanyak nimmt in Solothurn an einer Diskussionsrunde zum Verhältnis von Krieg und Literatur teil. Zusammen mit anderen Literatinnen mit biografischem Bezug zur Krisenregion. Unter ihnen ist auch Marina Skalova. Die Autorin und Übersetzerin ist in Moskau geboren und lebt heute in Genf.
Man könne der Literatur kein Versagen vorwerfen, weil es ihr nicht gelungen sei, den Krieg zu verhindern, sagt sie. Dies gehöre gar nicht zu ihren Aufgaben.
Die Kraft des Wortes stehe auf verlorenem Posten gegen die starken politischen und wirtschaftlichen Kräfte, die den Ukrainekrieg verursacht hätten, sagt Skalova. Aber: «Die Macht und Verantwortung der Literatur ist es, die Gesellschaft aufzurütteln – kraft ihrer Eigenschaft, radikal und konsequent sein zu können.»
Literatur vs. Propaganda
Im Unterschied zu abstrakten Nachrichten aus der Kriegsregion vermöge die Literatur in die Köpfe und Seelen von Betroffenen zu schlüpfen. Und Leserinnen und Lesern aufzuzeigen, was Krieg tatsächlich sei – im Unterschied zur einseitigen und verharmlosenden Kriegspropaganda.
Marina Skalova stimmt damit nicht in den Chor mancher westlicher Literaturschaffender ein, die kürzlich ihrer Ohnmacht und Wut darüber Ausdruck verschafften, an der Katastrophe des Kriegs nichts ändern zu können. Unter denjenigen, die grundlegende Zweifel an den Möglichkeiten ihres Metiers äusserten, finden sich so bekannte Namen wie Antje Rávik Strubel, die letztjährige Gewinnerin des Deutschen Buchpreises, Maxim Biller und Lukas Bärfuss.
Die Sprache der Literatur macht das Lügengeflecht der Propaganda sichtbar.
Pervertierte Sprache
Lukas Bärfuss drückte in der Wochenzeitung «Die Zeit» sein Entsetzen darüber aus, dass der Krieg die Sprache für die Propaganda missbraucht und damit das Ausdrucksmittel eines jeden Literaturschaffenden entwertet habe. Was also taugt die Sprache noch, wenn sich mit ihr zwar Literatur schreiben lässt, sie jedoch in der propagandistischen Verzerrung selbst Teil des Kriegs wird?
Der Missbrauch der Sprache bringe auch sie ins Grübeln, erklärt Marina Skalova. Allerdings sei «die präzise Sprache der Literatur jetzt erst recht wichtig». Sie mache «das Lügengeflecht der Propaganda sichtbar». Und sie helfe «aus der von der Propaganda gestifteten Verwirrung herauszufinden».
Literatur kann Traumata benennen
Gute Literatur suche nach dem Echten und mache auch Ambivalenzen sichtbar, ist die belarussische Übersetzerin und Essayistin Irina Herasimovich überzeugt. Gerade dies hätten die Millionen, die in der Ukraine unter dem Krieg leiden, bitter nötig: «Die Literatur kann Menschen helfen, Erfahrungen zu verarbeiten und dabei zu klären, welches unsere Werte sind.»
Für Herasimovich bietet die Literatur einen Denkraum, «in dem wir als Gesellschaft verhandeln können, wie wir leben wollen». Konkret erstelle ein befreundeter Schriftsteller in der Ukraine derzeit ein «Wörterbuch des Kriegs». Darin sammelt er Geschichten verschiedener Menschen, die alle auf ihre Weise vom Krieg betroffen sind – als Ausgebombte, als Geflüchtete, als Soldaten an der Front.
Die Literatur war in der Geschichte immer eine Trägerin der ukrainischen Identität.
Menschen ohne eigene Stimme finden in diesem Werk eine Möglichkeit sich auszudrücken. Der erlittene Schmerz erhält einen Namen – und lässt sich dereinst, wenn der Krieg vorbei sein wird, vielleicht besser überwinden.
Literatur erzeugt Identität
Literatur habe eine heilende Funktion, ist auch die Ukrainerin Halyna Petrosanyak überzeugt. Zudem stelle die in ukrainischer Sprache verfasste Literatur in ihrem Heimatland aber auch eine wichtige nationalstaatliche Klammer dar.
«Die Literatur war in der Geschichte immer eine Trägerin der ukrainischen Identität», sagt Petrosanyak. Und dies über die langen Jahrhunderte, während derer Russland die ukrainische Kultur unterdrückte. So hätten etwa die Gedichtbände des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko aus dem 19. Jahrhundert für viele Menschen den «Stellenwert von Bibeln» gehabt.
Die Literatur, auch dies ist also eine ihrer Funktionen, hilft mit, dass sich der ukrainische Nationalgedanke gegen Anfechtungen und Repression behaupten kann. Gerade auch heute wieder, da er aufgrund des Kriegs eine seiner schwersten Prüfungen durchläuft.