Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Junge sitzt in seinem Zimmer und spielt. Er spielt Zeitgeschehen. Seinen schwarz glänzenden Ritter nennt er Andreas Baader, seine Indianersquaw aus Plastik Gudrun Ensslin.
Der Junge erfindet sich seine Rote-Armee-Fraktion mit allem Drum und Dran: Logo, Wasserpistole und Ehrenmitglied – John Lennon natürlich. Mit dreizehneinhalb Jahren ist der Junge an der Schwelle zum Erwachsensein und reagiert auf seine Weise auf das, was draussen läuft.
Kleine Welt in der Provinz
Draussen läuft die alte Bundesrepublik. Diese «beige Republik» mit ihrer ganzen Spiessigkeit. Der Junge erlebt sie von der Provinz aus. Sprich Hessen. Biebrich. Das ist nicht mal richtig Wiesbaden. Geschweige denn Frankfurt. In Frankfurt haben sie eben ein Kaufhaus angezündet, der Ritter und die Squaw. Popstars sind sie damals noch im Sommer 1969. Popstars wie die Beatles, die gerade ihre letzten Songs aufnehmen an der Abbey Road.
Der Junge erbaut sich seine Welt. Neben dem Ritter und der Squaw gehört auch die Musik dazu. Sie knallt genauso rein in die alte Bundesrepublik wie die Kaufhausbrandstifter. Die Beatles natürlich mit ihren Haaren und ihren Platten. «Rubber Soul» vor allem hat es dem Jungen angetan.
Warum sind «The Who» bloss protestantisch?
Und dann der Glaube. Der echte, der katholische. Mitten im protestantischen Hessen. Und so vermischen sich Musik und Glaube zu was Drittem, zu einem Gedankenkonstrukt, womit sich gut leben lässt, was aber auch etwas Zwanghaftes hat.
Ist Mick Jagger Luzifer, der die göttliche Ordnung stört?, fragt sich der Junge ständig, und: Warum sind The Who bloss protestantisch? Darüber kann man sich als Teenager schon mal einen Sommer lang den Kopf zerbrechen.
Ein Porträt einer Zeit, ein Wahnsinnswerk
Frank Witzel kennt das alles. Die RAF, die Beatles, die Provinz. Im Sommer 1969 ist auch er dreizehneinhalb Jahre alt. Und trotzdem ist «die Erfindung», wie er seinen Roman der Einfachheit halber nennt, keine Autobiografie. Er ist nicht mal wirklich ein Zeitporträt. «Die Erfindung» ist in erster Linie ein Roman übers Erinnern. Einer erinnert sich und erfindet dabei das, woran er sich erinnert, ständig neu.
15 Jahre Arbeit stecken in diesem Roman. Und unzählige Perspektiven mit einem immer neuen Blick auf das immer Gleiche. Wie Musik ist der Roman gearbeitet. Wie eine LP, die aus unzähligen Songs besteht. Eine Rockoper, ein Wahnsinnswerk, in dem ein 60-Jähriger freilegt, was früher mal war. Und dabei seine Geschichte fantasiert. Song für Song. Schicht für Schicht. Ebene für Ebene. Und der Leser erkennt sich selbst dabei, ganz egal ob er jünger ist oder anders sozialisiert.
Das ist die grosse Leistung Frank Witzels: Dass man sich wiedererkennen kann in der Jugend des Protagonisten. Damit schafft Frank Witzel etwas Gültiges. Literatur. Nicht von ungefähr kam 2015 die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis, was niemand erwartet, aber alle gefreut hat.