Die 78-jährige deutsch-französische Autorin Sylvie Schenk nimmt sich in ihrem schmalen Roman «Maman» viel vor: über einen Menschen zu schreiben, der nichts über sich selbst wusste, und, obwohl funktionierende Ehefrau und Mutter von fünf Kindern, leblos wie eine Puppe war.
«Ich könnte verzweifeln, wenn ich merke, dass ich ihr nur negative Eigenschaften anhängen kann, sonst sehe ich sie als Nichts, eine leere Blase», schreibt Schenk. «Es kommt mir vor, als habe sie zwar leibhaftig gelebt, aber nur als ein angerichtetes Wesen.»
Bitterarme Arbeiterschaft
Das Bild vom angerichteten Wesen, so surreal wie präzis, könnte auch aus einem Märchen stammen. Aufs Allerwesentlichste konzentriert und doch voller Facetten erzählt Sylvie Schenk, was sie lange nach deren Tod über ihre Mutter herausfinden konnte.
Schenks Mutter wurde 1916 in Lyon geboren, als Tochter einer Seidenarbeiterin. Gut möglich, dass diese sich wie andere bitterarme Arbeiterinnen prostituieren musste, um über die Runden zu kommen. Vom Vater weiss man nichts. Vielleicht war er ein Freier.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
Um diesen Podcast zu abonnieren, benötigen Sie eine Podcast-kompatible Software oder App. Wenn Ihre App in der obigen Liste nicht aufgeführt ist, können Sie einfach die Feed-URL in Ihre Podcast-App oder Software kopieren.
Die Mutter von Sylvie Schenks Mutter starb kurz nachdem sie ihre Tochter geboren hatte. Das Baby wurde zu Bauern gegeben, die auf das Pflegegeld angewiesen waren. Vermutlich wurde das Kind dort misshandelt. Mit fast sieben Jahren kam es zu gutbürgerlichen Adoptiveltern.
Herkunft als Schande
«Da war meine Mutter vermutlich schon kaputt», sagt die Autorin dazu. Obwohl das Mädchen fortan liebevoll umsorgt wurde, gedieh es nicht. Es kam in der Schule nicht mit, fand keine Freundinnen, interessierte sich für nichts.
Mit 18 verheiratete man es mit einem Zahnarzt. Die Schwiegereltern fühlten sich über den Tisch gezogen, obwohl ihr Sohn auch nicht die beste Partie war: Seinen Abschluss hatte er nur durch väterliche Verbindungen erlangt, vielleicht sogar nur durch Zahlungen.
Zwar wusste man nichts über die Herkunft von Sylvie Schenks Mutter, aber der Umstand, dass sie ein uneheliches Kind war, genügte, um sie zu stigmatisieren. Wo sie auch hinkam, war sie eine Schande.
In ihrem Buch zeichnet die Schriftstellerin Dünkel, mangelnde Empathie, Lieblosigkeit und Gewalt auch in einem zeitgeschichtlichen Panorama: «Maman» schlägt einen grossen Bogen von der himmelschreienden Armut von Arbeiterinnen zu Zeiten des Ersten Weltkriegs bis zum saturierten Bürgertum im Zweiten Weltkrieg und den Nachkriegsjahren.
In Schränke hineinsprechen
Der schmale Roman entwickelt einen grossen Sog und stösst viele Türen auf. Seine Themen haben etwas Universelles: Sprachlosigkeit und Kommunikationsschwierigkeiten zum Beispiel gehen alle an.
Sylvie Schenks Mutter hatte sich weder mit ihrem Mann noch mit ihren Kindern je über ihre Vergangenheit unterhalten: «Sie sprach allein vor sich hin, in Schränke hinein». Der Roman zeigt auf, welche Folgen das hatte und wie durch das Schweigen Traumata weitergegeben wurden.
Trotzdem ist «Maman» kein trauriges Buch. Seine Genauigkeit, seine Schärfe, die gänzliche Abwesenheit von Larmoyanz und Sentimentalität und der gelegentliche Schalk machen es zu einem tief berührenden Lesevergnügen.