Ein namenloser Ich-Erzähler lässt sich «vor den Karren der Erinnerung spannen»: Die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem entsendet den Historiker nach Warschau, wo er als Tourguide Gruppen israelischer Jugendlicher durch die Gedenkstätten der Vernichtungslager führt.
Im Weiteren erhält er – als Experte für die technischen Prozesse der Vernichtungslager – immer wieder Anfragen. Für die Vorbereitung einer Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Wannseekonferenz. Ebenso für ein Computerspiel, in dem möglichst authentisch ein Vernichtungslager simuliert werden soll.
Ein Rechtfertigungsbericht
Yishai Sarids Roman ist keine klassische Ich-Erzählung. Wir lesen einen Brief, den Rechtfertigungsbericht des Ich-Erzählers an den Direktor von Yad Vashem. Die Briefform versetzt uns in das Bewusstsein des Ich-Erzählers.
Wir werden Zeuge seiner Entwicklung von einem Profiteur der Erinnerungskultur zu einem Zweifler. Die Gruppenführungen «füllten unser Bankkonto», schreibt er in einem Brief.
Anfangs brüstet er sich noch mit den Komplimenten, die er für seine Dissertation erhalten hat. Es heisst, er sei «dem Fluch der Emotionalität entgangen». Zusehends wird ihm die Rolle des unbeteiligten Experten aber unerträglich.
Asche der Toten
Er sieht, wie ein KZ-Überlebender auf einer Auschwitz-Führung zusammenbricht, als er den auf ihren Smartphones herumtippenden Jugendlichen von seinen Erfahrungen berichten soll. Allmählich beginnt der Ich-Erzähler zu begreifen, was er bisher nur technisch wahrgenommen hat.
Auf einmal sieht und hört er die Opfer, deren Asche hier vergraben ist. Er fällt aus der Rolle, bis er schliesslich gegenüber einem deutschen Dokumentarfilm-Regisseur gewalttätig wird, der den Holocaust für seine eigenen Absichten ausbeuten will.
Das Monster namens Erinnerung
Das Monster, das in Europa so viele Menschen getötet hat, sei tot, erklärt der Ich-Erzähler seinem 6-jährigen Sohn. Jetzt sei das Monster die Erinnerung. Das Wort Monster schillert in vielen Bedeutungen, denn monströs ist auch der Mensch.
«So müsste man es mit den Arabern machen», hört der Ich-Erzähler die Jugendlichen auf einer Führung sagen. Er selbst wiederum erinnert eine entsetzte Lehrerin in einer Diskussion daran, dass auch die Juden laut der hebräischen Bibel Frauen und Kinder ermordet haben – «auf ausdrückliche Anweisung Gottes».
Es gibt bei Sarid keine saubere Trennung von Opfern und Tätern.
Unterhaltsam und verstörend
Yishai Sarid schreibt an sämtlichen Tabus entlang. Zwischen den Polen von Gut und Böse finden wir uns unversehens auf einem Minenfeld. Aufgrund der fast unvermeidlichen Komik des Absurden hat die Lektüre zwar etwas eigenartig Unterhaltsames.
Doch das Buch ist verstörend. Denn Yishai Sarids Finger zeigt auf uns: Wäre ich bereit, jemanden zu töten, um mich selbst zu retten? Wäre ich bereit, mein Leben zu riskieren, um jemanden zu retten?