Sind wir Deutschschweizer unmündig in Bezug auf unsere Mundart? «Viele von uns ja», sagt Schweizer Schriftsteller Beat Sterchi.
Als Vater erlebte er viele Elternabende an Schulen, er unterrichtet Jugendliche als Leiter von Spoken-Word-Workshops und beobachtet an Vorträgen und Seminaren die Referenten am Rednerpult.
Der leidvolle Gang ans Rednerpult
Oft sieht Sterchi denselben Mechanismus: Leute, die sich im zwanglosen Gespräch eben noch eloquent, geistreich und höchst sprachkompetent unterhalten haben, schrumpfen zu hölzernen und leider oft unglaubwürdigen Vortragenden.
Und dies nur deshalb, weil sie auf dem Gang zum Podium die Sprache wechseln, weil sie von ihrer Muttersprache in die Hochsprache wechseln. Hochsprache sei für sie eine Sprache der Schriftlichkeit, des Papiers.
«Es mangelt ihnen an allem, was rhetorisch überzeugend wäre», findet Sterchi. Am Radio und Fernsehen sei es übrigens exakt dasselbe – man höre, dass sich die Sprechenden im Hochdeutschen nicht wohl fühlten.
Mundart als Landessprache
Aus dieser erfahrungsbasierten Diagnose leitet Beat Sterchi seine wichtigste Forderung ab: Hochdeutsch und Mundart sind zwei Sprachen. Nicht zwei Varianten von Deutsch, sondern zwei eigene und als gleichwertig zu betrachtende Sprachen.
Daraus folgt, dass Hochdeutsch für Deutschschweizer eine Fremdsprache ist. Das sei endlich zu akzeptieren – von den Bildungspolitikern, von den Wissenschaftlern, von den Bürgerinnen und Bürgern.
Stattdessen seien in der Bundesverfassung zwar Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch, nicht aber die Muttersprache der Deutschschweizer, nämlich ihre Mundart, als Landessprache verankert.
Fremdsprache Hochdeutsch
Dass Hochdeutsch eine Fremdsprache ist, das erlebe man im Alltag ständig, schreibt Sterchi in seinem Buch «Mut zur Mündigkeit».
Norddeutsche verstehen uns grundsätzlich nicht, wenn wir Mundart sprechen. Umgekehrt lernen wir Hochdeutsch, sofern unsere Eltern Mundart sprechen, nicht automatisch wie eine Muttersprache, sondern als zweite Sprache in der Schule.
Wenn man die Neujahrsansprachen der Bundespräsidenten als Beispiele nehme, dann erlebe man den «Inbegriff von sprachlichem Unwohlsein».
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Ein Problem nur für die Älteren?
Man möchte Beat Sterchi die Kulturschaffenden, die Schriftsteller entgegenhalten. Peter von Matt etwa, der bei der gegenwärtigen Mundartwelle um den Anschluss und die Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum fürchtet.
Oder die Linguisten, unter denen es viele gibt, die den messbaren sprachlichen Abstand zwischen Hochdeutsch und Deutschschweizer Mundart als zu gering erachten, als dass man von zwei Sprachen reden könne.
Man möchte Sterchi auch entgegnen, dass er von Problemen der heutigen Grosseltern- und Elterngeneration schreibt, nicht der jüngeren Generationen. Von den heutigen Jugendlichen wachsen viele sowieso mehrsprachig auf und ihr Umgang mit den digitalen Medien setzt Hochdeutsch- ebenso wie Englischkompetenz selbstverständlich voraus.
Akzent akzeptieren
Diese Einwände sind berechtigt. Und doch trifft Sterchi einen Nerv: Viele Mundartsprechende fühlen sich ganz offensichtlich nicht wohl, wenn sie Hochdeutsch sprechen müssen.
Die Kompetenz, sich in dieser Sprache auszudrücken, muss also dringend gefördert werden. Zunächst einmal solle man schlicht und einfach seinen helvetischen Akzent akzeptieren, statt sich seiner zu schämen, sagt Sterchi.
Ein Armutszeugnis für unsere Schulen
In die Hochsprache solle man überhaupt nur wechseln, wenn die Verständlichkeit gefährdet ist – das sei eben der geforderte «Mut zur Mündigkeit».
Beat Sterchi setzt noch einen drauf: Dass so viele Deutschschweizer die wunderbaren und wichtigen Romane von Pedro Lenz nicht lesen können, nur weil sie in Mundart geschrieben sind, das sei doch ein Armutszeugnis für unsere Schulen. Da hat er nicht ganz Unrecht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Passage, 23.12.2016, 20.00 Uhr.