Neben seinen 75 Maigret-Krimis schrieb Georges Simenon 117 Romane und 158 Erzählungen. Der neu gegründete Zürcher Kampa Verlag bringt Simenons Gesamtwerk neu heraus, darunter den Roman «Der Schnee war schmutzig» mit einem Nachwort von Schriftsteller Daniel Kehlmann.
Ein Gespräch darüber, was dieses Buch so aussergewöhnlich macht und warum Simenon «ein schriftstellerisches Genie» war.
SRF: Wie kam es dazu, dass Sie ein Nachwort zu Simenons Roman «Der Schnee war schmutzig» geschrieben haben?
Daniel Kehlmann: Der Kampa Verlag hat mich angefragt. Ich bin kein grosser Simenon-Kenner, deswegen wollte ich das Buch erst einmal lesen. Und ich muss sagen: Ich war wirklich begeistert und erschüttert von diesem unglaublichen Buch.
Was ist es genau, was Sie an diesem Roman bewegt?
Dieses Buch ist eine realistische Zeichnung davon, wie ein junger Mann, der in einem absolut kriminellen Umfeld aufwächst, seelisch funktioniert.
Der Protagonist Frank ist nicht ein böser, gescheiter, brillanter junger Mann, sondern ein abwesender junger Mensch, mit einer unscharfen Identität, der irgendwie durch dieses schmutzige, verkommene Leben schwimmt, das ihm die Welt der Okkupation bietet. Eine Welt ohne Rechtssicherheit oder staatliche Stabilität.
Das Grossartige an diesem Roman ist, abgesehen von der Milieustudie, wie Frank im letzten Viertel des Buches zu sich kommt und zu einer Person wird.
Sie schreiben in Ihrem Nachwort, Frank sei ein «Anti-Raskolnikow», Hauptfigur aus Dostojewskis Roman «Schuld und Sühne».
Dostojewskis Raskolnikow ist ein brillanter junger Mann, der sich aus philosophischen Gründen für einen Mord entscheidet. Er bringt eine alte Frau um, deren Leben er als «unwert» erklärt, weil er meint, er habe das Recht dazu.
Dann kommt ihm sein Gewissen in die Quere. Er lernt, dass man moralisch nicht einfach über andere Menschen verfügen kann, und er lernt, dass der Mensch ein Gewissen hat, darunter auch er.
Wie verhält sich Simenons Figur Frank demgegenüber?
In dem Roman «Der Schnee war schmutzig» ist eigentlich alles umgekehrt: Der junge Mann mordet nicht aus einem philosophischen Entschluss heraus, sondern weil er in einem Milieu aufgewachsen ist, wo dies selbstverständlich scheint. Und er hat nachher überhaupt keine Probleme deswegen.
Es gibt zahlreiche Komplikationen in seinem Leben, aber das Gewissen ist keine davon. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Simenon dies im Buch bewusst als ein Gegenmodell zu «Schuld und Sühne» von Dostojewski angelegt hat.
Also eine Figur ohne Skrupel, bis zum Schluss?
Auf jeden Fall kann man sagen, dass Frank ein Stellvertreter ist für die Gesellschaft ohne Moral und Schuldbewusstsein, in der er aufwächst. Für diese Welt voller Verlierer, diese Welt der Okkupation, die vermutlich schon die deutsche Besetzungsmacht in Frankreich zeigt. Das lässt sich jedenfalls vermuten.
Wie Simenon die Not der Menschen zeigt, ist sehr ergreifend und überzeugend: Man hat nichts zu heizen, die Leute tragen immer Mäntel in den Wohnungen und haben nichts zu essen. Desolate Zustände.
Bis es am Schluss des Buches zu einer Art Rettung der Seele durch die Liebe kommt. Man traut sich ja gar nicht, das auszusprechen: die Rettung einer Seele durch die Liebe.
Das klingt ungeheuer pathetisch.
Das klingt sogar fast unerträglich pathetisch. Aber das Fabelhafte ist eben, dass das so erzählt ist, dass dieses Pathos – wenn man es überhaupt Pathos nennen kann – dass man dieses moralische Gewicht des Buches beim Lesen kaum merkt und dass es einen dann doch manchmal mit einer unglaublichen Wucht überkommt. Gleichzeitig hat man nie das Gefühl, dass hier in grossen Worten oder mit einer Sehnsucht nach Gewicht und Bedeutung gearbeitet wird.
Was Simenon sich hier vornimmt, das sage ich auch als Schriftsteller, ist wirklich das Allerallerschwerste, die ganz hohe Schule. Zugespitzt gesagt: Wenn man kein Genie ist, kann man das nicht hinkriegen. Das Buch zeigt: Simenon ist ein Genie.
Das Gespräch führte Nicola Steiner.