Er bewegte sich ungern. Die allermeiste Zeit sass Dürrenmatt nur in seinem Arbeitszimmer und schrieb oder zeichnete. Ein Solitär und Solodenker. Eigentlich ein Horror für jeden Biografen – und trotzdem erscheint nun nach Peter Rüedis Werk von 2011 bereits die zweite Dürrenmatt-Biografie innerhalb von zehn Jahren.
Rüedis Biografie «Dürrenmatt oder die Ahnung vom Ganzen» war ein gigantischer Torso. Eine Statue mit fehlenden Gliedmassen. Dürrenmatt, der alles Vollständige und Perfekte verachtete, hätte seine Freude daran gehabt.
Die perfekte Ergänzung
Ulrich Weber legt nun, rechtzeitig zu Friedrich Dürrenmatts 100. Geburtstag am 5. Januar 2021, erstmals eine umfassende Biografie vor, die alle Lebensstationen und Werkphasen berücksichtigt.
Doch er ist keineswegs nur der Ausputzer, der dort glänzt, wo Rüedi Lücken hinterliess. Statt sich zu kannibalisieren, ergänzen sich die beiden Biografen.
Einführung in den Kosmos
Weber, der Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv ist, kennt sämtliche Briefe und Lebenszeugnisse. Diese stellt er chronologisch und übersichtlich dar. Seine Biografie eignet sich vorzüglich als Einführung in Dürrenmatts Kosmos. Mit Rüedis Werk können Fortgeschrittene ihr Wissen weiter vertiefen.
Dürrenmatt erweckte gern den Eindruck, als habe er alle seine Werke aus sich heraus geschaffen. Weber stellt ihn nun aber konsequent in seine geschichtliche Umgebung. So zeigt sich, wie vielfältig die Korrespondenzen zwischen dem Autor und seiner Zeit doch waren.
Im Wesentlichen links
Gerade der politische Dürrenmatt erhält so Kontur. Und anders, als Bürgerlich-Konservative behaupten, vertrat Dürrenmatt nach einigen frühen Irrungen und Wirrungen hauptsächlich linke und linksliberale Positionen.
Webers Biografie liefert viel Neues. So wertet er etwa den vernichtet geglaubten Briefwechsel zwischen Dürrenmatt und seiner ersten Frau Lotti aus: Wir erhalten unmittelbare Einblicke in sein Intimleben.
Seitensprünge und Familienbande
Zwar hat sich der Autor und Maler immer über die Frauengeschichten seines Kollegen Max Frisch mokiert – es gab aber auch bei ihm Seitensprünge. Trotzdem: In der biografischen Aufarbeitung des Suizidversuchs seiner Frau Lotti nach einem dieser Seitensprünge wird klar, wie existentiell die Familie für Dürrenmatt war.
Ulrich Weber klebt nicht unkritisch an den Worten des Titanen. Er korrigiert immer wieder allzu stilisierte Selbstaussagen und ergötzt sich auch nicht an jedem Kalauer Dürrenmatts über Kollegen. Dieser meinte schliesslich selber einmal, man müsse seine lebensgeschichtlichen Äusserungen «für kostbare, statt für bare Münze» nehmen.